Linksliberales Debattenklima: In der Diskursbrühe

Es ist eng und stickig im Bassin derer, die Kultur für die ökoliberale Mittelschicht machen. Bademeister wachen darüber, dass niemand ausschert.

Hände an einem Beckenrand

„Wer mal draußen ist, den lassen die Bademeister nicht mehr zurück“ Foto: Westend61/imago

Neulich erwachte ich aus schweren Träumen und fand mich in einem Bassin mit vielen anderen, nackt in eng geschlossenen Reihen. Die Luft um uns war stickig, und das warme Wasser reichte uns, je nach Größe, an die Hüfte oder über den Bauchnabel hinauf. Wir blickten alle in die Richtung des schmaleren Endes, wo am Beckenrand, etwas nebelhaft wegen der aufsteigenden Dämpfe, irgendein Spektakel stattfand, bei dem große oder seltsame Worte ins Spiel gebracht wurden. Manchmal ging beifälliges Gemurmel durch unsere Reihen, manchmal war auch ein vereinzeltes „Oho!“ oder „Aha!“ zu hören. Dann trat wieder eine gespannte Stille ein: vorne wurde irgendeine Änderung vorgenommen.

Meine Augen und Ohren wollten sich noch nicht recht an die Gegebenheiten anpassen. Und die angenehme Temperatur entschädigte mich nur wenig für die drangvolle Enge, die hier herrschte, wo ich offenbar meinen Platz hatte, denn niemand schien überrascht über mein Hiersein.

„Verzeihung“, wandte ich mich an den Herrn zur Rechten, gegen den ich mich wider Willen gedrückt fühlte. „Stehen wir schon lange so hier?“ „Was isn das fürne Frage!“, kam es mürrisch zurück. „Eine einfache?“, gab ich zögernd zurück. „Sie müssen ihn entschuldigen. Er ist scheiße drauf, seit man Sie zwischen uns geschoben hat“, erklärte die Dame zu meiner Linken. „Wer tut denn so was?“, fragte ich erstaunt. Rundherum Lachen.

„Amnesie! Ich verstehe“, seufzte die Dame. „Ab und zu müssen wir hier alle möglichst viel vergessen, damit wir nicht den Verstand verlieren“. „Ich hab schon lange nichts mehr vergessen!“, trumpfte der Herr zur Rechten auf, was ihm ein paar hämische „Tja …“ einbrachte. Er verstummte wie einer, der aus Prinzip schlechte Laune hat.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte: „Was machen wir denn hier?“ Wiederum dies verhaltene Lachen. „Kultur!“, tönte es von allen Seiten zurück. „Wir machen Kultur für die öko-liberale Mittelschicht.“ „Hier, in diesem Bassin? In dieser Enge?“ „Ha, Sie können ja rausgehen, wenn es Ihnen hier nicht gefällt.“ Das war genau, was ich im Sinne hatte, und ich wollte mich gerade zur Seite wenden. Wieder dieses verdruckste Gelächter. Es fing an, mir auf die Nerven zu gehen.

„Das war ein Scherz“, sagte jemand hinter mir sarkastisch. „Hier kommt man nicht so leicht raus.“ Ich versuchte mich umzudrehen, was mir nach einigen Mühen schließlich gelang. „Was starren Sie mich denn so an?“, fuhr mich die Dame hinter mir an. „Verzeihung“, sagte ich leise, „ich wollte niemanden anstarren. Nur irgendwo anders mal hinschauen.“ „Nichts da!“, schallte es von verschiedenen Seiten, und: „Da vorne spielt die Musik.“ Und so wurde ich wieder umgedreht.

„Ich will hier raus!“, rief ich, der Verzweiflung nah. „Sie haben wirklich alles vergessen, was?“, meinte die wohlwollende Dame neben mir. „Ich erkläre es Ihnen: Wir stehen hier in diesem Becken, während vorne, nun ja, die Musik spielt. Wer es schafft, immer weiter nach vorn zu kommen, also sobald sich irgendwo eine Lücke auftut …“ „Woher kommen solche Lücken?“, wagte ich zu fragen. „Nun, manche werden einfach aus dem Spiel genommen, weil sie zu inaktiv sind oder nur noch maulen“ (dies mit einem scharfen Blick zu ihrem Ex-Partner), „das machen die Bademeister. Die Bademeister machen hier alles. Sie achten darauf, dass sich niemand seitwärts verdrückt.“

„Es geht darum, immer weiter vorzurücken“, wurde ich weiter belehrt. „Wenn eine Stelle frei wird, muss man sehen, dass man sich hineindrängt. Dabei gibt es aber so viel Bewegung, dass mehrere auch wieder nach hinten rücken.“ „Das ist ja furchtbar!“ „Uns hier gefällt das. Dafür sind wir schließlich da. Sie hätten ja nicht reinkommen brauchen.“ Ich beschloss, mich etwas zurückzuhalten, denn es drückte von allen Seiten, sodass ich Angst bekam, unter Wasser gedrückt zu werden und elend zu ersaufen. Und dann hörte ich auch die Pfiffe und Schreie der Damen und Herren Bademeister. „Das ist die Gemeinheit“, flüsterte jemand mir zu. „Immer wenn sie einen aus dem Wasser holen, drücken sie zwei in die frei gewordene Stelle. So wird es hier immer enger.“

„Also, ich würde mich sehr gern aus dieser Brühe herausholen lassen.“ „Sie wissen wohl nicht, wie kalt es da draußen ist? Wer mal draußen ist, den lassen die Bademeister nicht mehr zurück.“ „Es gibt nur einen Weg! Sie müssen nach vorn. Da hat man Platz, das sieht man alles besser, da kann man mitmachen, da wird man gehört.“ „Und dann?“ „Dann werden Sie Teil der Vorstellung oder können selber Bademeister werden.“

„Aber die Welt ist doch riesengroß“, wagte ich zu protestieren. „Was machen wir in diesem muffig-engen Bassin?“ „Wir machen Geschmack. Wir machen Überzeugungen!“ „Vor allem geht es um Worte. Ein Wort ist wie ein Virus. Es lebt erst, wenn es einen Wirt gefunden hat. Zum Beispiel einen Satz. Und so ein Satz ist wie eine Krankheit. Die breitet sich aus, zum Beispiel in einem Buch, oder in einem Beziehungsstreit oder in einer Politikerrede. Und wir, wir sind die Symptome. An uns erkennen die Bademeister die Fortschritte.“

„Wir sind der Fortschritt“, sagte jemand stolz und drängte derb einen anderen zurück. „Man wirft uns von vorn die Worte zu, wir machen Sätze daraus, und aus den Sätzen werden Überzeugungen, und aus den Überzeugungen …“

Nun, da ich wieder wusste, wo ich hingehörte, wennzwar mir nicht bewusst war, jemals freiwillig in dieses Becken gestiegen zu sein, ergriff mich eine große Mattigkeit. Und in einem Moment relativer Ruhe schlief ich ein, von eng an eng stehenden Mit­bas­sin­be­woh­ne­r*in­nen gestützt. Und ich träumte, ich sei Kolumnist in einer irgendwie linken Tageszeitung und ich hätte Leserinnen und Leser, die ich auf eine wundervolle, weite und freie Welt ohne lauwarmes Wasser, Bademeister und Drängeleien aufmerksam machen könnte. Woran man wieder einmal sehen kann, was für einen Blödsinn man zusammenträumt, wenn man im Kulturbassin der ökoliberalen Mittelschicht steht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist freier Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „Corona­kontrolle. Oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.