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: Israel – ein Apartheidstaat?

Amnesty International beschuldigt Israel der Apartheid. Wie sinnvoll aber ist die Verwendung des Begriffs?

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Daniel Marwecki

ist Dozent für Internationale Politik an der University of Hongkong. Zuvor hat er in England gelehrt und promoviert. Autor von „Germany and Israel: White­washing and Statebuilding“.

Was ist Apartheid? Blickt man ins Völkerrecht, so lässt sie sich verstehen als die Ungleichbehandlung zweier Gruppen in einem Staat. Mehr noch: Es handelt sich um systematische, rassistisch begründete Diskriminierung. Ein Apartheidstaat kann keine Demokratie sein – er ist ein rassistisches Herrschaftsprojekt. Ein ebensolches sei Israel, verkündete Amnesty International nun Anfang der Woche.

Die Zustände, unter denen Palästinenserinnen und Palästinenser leben müssen, sind so bekannt wie skandalös. Sie werden von der Menschenrechtsorganisation nochmals akribisch aufgearbeitet. Empirisch ist an dem Bericht wenig auszusetzen. Aber militärische Überlegenheit und systematische Diskriminierung ist noch nicht gleich „Rassenherrschaft“ à la Südafrika. Das Beharren auf populären Labels führt dazu, dass auf den Apartheidvorwurf einfach der Antisemitismusvorwurf erwidert wird, und eines in der Diskussion mal wieder untergeht: das reale Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser. Das Verdikt des 278 Seiten starken Berichts, der auf jahrzehntelangen Recherchen beruht, ist klar. Israel, so heißt es, „hat den Palästinensern ein System der Unterdrückung und der Fremdherrschaft auferlegt“. Die palästinensische Bevölkerung werde systematisch und qua Gesetz diskriminiert. Eine Chance auf gleiche Rechte gäbe es nicht.

Für die israelische Regierung ist der Bericht antisemitisch. Natürlich dürfe man Israel, die einzige Demokratie in der Region, kritisieren. Aber Amnesty verlasse den Boden der Tatsachen und spiele den Antisemiten in die Hände, so die israelische Regierung. Palästinenser mit israelischem Pass haben die gleichen Rechte wie jüdische Israelis. Und was die Palästinenserinnen und Palästinenser in den 1967 besetzten Gebieten angeht: Aus Gaza sei man schon 2005 abgezogen und die Abriegelung des Küstenstreifens diene schlicht dazu, sich vor den Raketen der islamistischen Terrororganisation Hamas zu schützen, so die Regierung. Und dass das Autonomieexperiment für die Palästinenser im Westjordanland fehlgeschlagen ist, sei nicht Israel anzukreiden.

Was ist nun von der ganzen Sache zu halten? Neu ist die Debatte um den Apartheidbegriff nicht. Palästinenserinnen und Palästinenser, die in der deutschen Diskussion über den Konflikt nur selten vorkommen, machen seit Jahrzehnten auf ihre Lebensbedingungen aufmerksam. Zu leugnen ist die systemgewordene Ungleichheit nicht, aber eine Gleichsetzung mit der Apartheid in Südafrika ist unangebracht. Es geht um die Begrifflichkeit – und damit auch um das Wesen des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Amnesty International definiert Apartheid nach internationalem Recht und nicht nach ­historischem Vorbild. Der Bericht macht aus Israel kein Südafrika. Aber in der öffentlichen Debatte kommt nur das Schlagwort an, nicht die Analyse dahinter. Das weiß Amnesty. Und munitioniert damit auch jene, die in Israel nichts weiter als einen rassistischen Kolonialstaat sehen wollen.

Außerdem beruhen die Apartheiddefinitionen des internationalen Rechts, zum Beispiel die des Römischen Statuts, auf der historischen Erfahrung des Apartheidregimes in Südafrika. Der jüdische Staat wird damit in die Nähe des südafrikanischen Apartheidstaats gerückt, dessen Ideologie mit derjenigen der Nazis seelenverwandt war. Für die Verteidiger Israels, gerade auch in Deutschland, ist das ein rotes Tuch. Denn die Idee eines jüdischen Staates entstand nicht deswegen, weil man sich die Araber in Palästina unterwerfen wollte. Sie entstand, weil die Zionisten in der Gründung eines eigenen Staates den einzigen Ausweg aus dem europäischen Antisemitismus sahen. Auch der Zionismus des frühen 20. Jahrhunderts konnte sich nicht vorstellen, welche Barbarei wenige Jahre später von Deutschland ausgehen sollte. Die Shoah bleibt, ex-post-facto, das schwerste Argument für den jüdischen Staat.

Auch vor diesem Hintergrund möchte das deutsche Büro von Amnesty International den Bericht nicht bewerben. Die Position ist nachvollziehbar: zu gewinnen ist mit der Debatte wenig. In Deutschland bilden die Nahostdebatten mehr prekäre Befindlichkeiten ab als die Realitäten der Region, um die es eigentlich gehen sollte.

„Der Bericht macht aus Israel kein Südafrika. Aber in der öffentlichen Debatte kommt nur das Schlagwort an“

Was ist nun von dem Streit um den Amnesty-Bericht zu halten? Der israelische Soziologe Baruch Kimmerling schrieb dazu schon im Jahre 2008, dass die Zustände zwischen Jordan und Mittelmeer eigentlich viel schlimmer seien als in einem Apartheidstaat. Israelis und Palästinenser, so Kimmerling, befänden sich in einem Nullsummenspiel um dasselbe Territorium. Weil Israel in diesem Kampf ums Ganze die militärische Oberhand hat, führt das zu einer systematischen Ungleichbehandlung der palästinensischen Bevölkerung. Und weil die Palästinenserinnen und Palästinenser militärisch unterlegen sind, bleibt ihnen als Munition vor allem das moralische Argument. Wer das Land nicht gewinnen kann, dem bleibt nur der Kampf ums Narrativ.

In dieser Lesart ist die alltägliche Drangsalierung der Palästinenser nicht in erster Linie das Resultat einer rassistischen Kolonialideologie, sondern die Folge eines Konflikts zweier verfeindeter Nationen um dasselbe Land. Das, was Amnesty International Apartheid nennt, sind in dieser Betrachtung die Resultate der israelischen Überlegenheit in einem gnadenlos geführten und hochgradig emotionalisierten Krieg. Die simple Konfliktformel „zwei Nationen – ein Territorium“ hat den Vorteil, dass sie ohne den Apartheidbegriff auskommt, ohne aber die schon seit Jahrzehnten andauernde Entrechtung der palästinensischen Seite auszuklammern. Denn egal wie man die Zustände zwischen Jordan und Mittelmeer nun nennen mag: ändern müssen sie sich.