Die Blumen auf dem Mist

Der sanfte Ironiker Scott McClanahan beschreibt in seinem autobiografischen Roman „Crap“ eine Adoleszenz in den Appalachen

Skurriler Witz, Empathie und Seelentiefe: Scott McClanahan erzählt von gebrochenen Helden Foto: privat

Von Frank Schäfer

Im Original heißt das Buch „Crapalachia“, eine Kontamination von „crap“ und „Appalachia“. „Das ist kein guter Titel. Er ist fürchterlich“, beschwert sich die Mutter des Autors. Er widerspricht. „Nein, ich finde den Titel gut. Crap, also Scheiße, düngt die Erde und dann wachsen Blumen.“

In diesen Sätzen steckt die Poetik von Scott McClanahan. Er greift tief hinein in diesen Klumpen Leben, das trostlose Appalachenkaff Danese, und bringt es literarisch zum Blühen. McClanahan ist neben Tom Franklin, Daniel Woodrell und Donald Ray Pollock einer der bedeutenden Chronisten des Hillbilly-Amerika, aber in dieser Reihe mit Abstand der sanfteste. Er ist ein literarischer Nachfahre des Flower-Power-Schriftstellers Richard Brautigan, nicht ohne Grund zeigt ihn das Autorenfoto in einer Blümchen-Tunika. Auch McClanahan offenbart einen unerschütterlichen Optimismus, eine Zartheit und eine Sensibilität für die Sensationen des Profanen, die das in „Crap“ Erzählte fast schon konterkarieren. McClanahan sucht mit einer Inbrunst, die man von Gläubigen kennt, nach den Blumen, die auf all dem Mist wachsen. Und mitunter muss er dafür die Grenzen der Realität auch mal ein bisschen poetisch erweitern.

Die Region, aus der er stammt, ist schon lange abgehängt. Die Menschen hier sind arm, arbeiten unter Tage und sterben wie die Fliegen, bis die Zechen irgendwann dicht machen. Jetzt sind sie arbeitslos oder verdingen sich als Servicepersonal in der Tourismusbranche. Viel Gegend gibt es hier ja. Die Geschichten von früheren Bergwerksunglücken lernt Scott in der Schule, und er referiert sie mit dem nötigen Sarkasmus. „Damals stieg Rauch aus den Stollen, und die Ehefrauen der Bergarbeiter rannten zur Mine, um zu sehen, ob ihre Männer verunglückt waren. Die Frauen warteten auf ihre Männer, aber die kamen nicht mehr. Und die Bergbaufirma bezahlte die Männer hinterher nur für einen halben Tag, da sie während der anderen Hälfte bereits tot gewesen waren.“

Scott ­McClanahan: „Crap“. Aus dem Englischen von Clemens Setz. Ars Vivendi, Cadolzburg 2021, 195 Seiten, 20 Euro

McClanahan beschreibt mehrere solcher Katastrophen, um sein Personal mentalitätsgeschichtlich zu grundieren. Wer in West Virginia aufwächst, muss sich durchbeißen, und vor diesem Hintergrund bekommt die trotzdem immer wieder aufblitzende Humanität der Menschen noch mehr Gewicht.

Das Buch ist voller tragischer, zugleich aber auch vitaler und komischer Charaktere. Scotts Großmutter Ruby zum Beispiel, die viele ihrer Babys begraben muss und die sich bei aller Abhärtung gegen das Leben eine schrullige Liebesfähigkeit bewahrt hat. Oder Onkel Nathan, die heimliche Hauptfigur des Romans. Er leidet an Zerebralparese, ist teilweise gelähmt, kann nicht sprechen und versucht einmal, seinem Leben ein Ende zu setzen, aber er zeichnet sich eben auch aus durch einen skurrilen Witz, durch Empathie und Seelentiefe und ist folgerichtig der Lieblingsonkel des jungen Scott. Oder Little Bill, kein schlechter Kerl, ein loyaler Freund, der aber von seinen Eltern vernachlässigt wird und später für ein paar Schmerzmedikamente ein altes Ehepaar umbringt.

Dieser autobiografische Roman erzählt von gebrochenen Helden. Um sie geht es McClanahan vor allem. Er will sich nicht damit abfinden, dass sie einfach so spurlos vom Erdboden verschwinden, und ihnen ein Denkmal setzen. Sie legen damit aber auch Zeugnis ab von seiner eigenen Existenz. So ist das Buch letztlich auch eine Art „Gebet für mich selbst“. „Bitte sag mir, dass ich geboren wurde. Bitte sag mir, dass ich gesungen und gelacht, dass ich getanzt und geschaut und geträumt habe.“

Um alle wichtigen Freunde und Familienmitglieder unterzubekommen, erzählt McClanahan anekdotisch, sprunghaft, ohne stringenten Plot. „Crap“ ist ein unordentlicher Roman, der sich sehr auf narrative Intuition verlässt, über Reprisen und Leitmotiven aber doch eine gewisse Geschlossenheit herstellt. Etwa wenn der Ich-Erzähler immer mal wieder auf das Thema des Buches zurückkommt. Ein Geräusch. „Es geht so: tick, tick, tick, tick, tick, tick, tick. Du hörst es jetzt ebenfalls. Eines der traurigsten Geräusche der Welt.“ McClanahan schreibt an gegen die ablaufende Zeit. Das ist die Urfunktion von Kunst: wenigstens etwas Unsterblichkeit herstellen.

Der Ton hat bisweilen etwas Altes, fast Mythisches. Es ist der Sound des ursprünglichen Amerika, den der Roman noch einmal aufruft

Auch sein Ton hat bisweilen etwas Altes, fast Mythisches. Es ist der Sound des ursprünglichen Amerika, den er noch einmal aufruft, auch wenn die Segnungen der Moderne und gelegentliche Zeitangaben die Geschichte jederzeit im hier und jetzt situieren. Die mountain people in den Appalachen, diese exemplarischen Hinterwäldler, haben noch am ehesten Zugang zu dieser mythischen Unterströmung der USA, das möchte uns McClanahan suggerieren.

Der Büchnerpreisträger des vergangenen Jahres Clemens Setz, der Scott McClanahan für das deutschsprachige Publikum entdeckt und übersetzt hat, findet eine adäquate Sprache für dieses zupackende, hemdsärmelige und archaische Idiom. Setz rettet die rüde Poesie hinüber ins Deutsche.