Wider die Verklärung

Hochironischer, auch mal zotiger Reigen über Starkult, Kulturschickeria und Kunst auf Bestellung: „33 Variationen auf Haydns Schädel“ am Schauspielhaus in Hamburg

Held der Anekdoten: Jan-Peter Kampwirth als Joseph Haydn Foto: Thomas Aurin

Von Jens Fischer

Der Mann: ist er unterhaltsam, gar richtig interessant? Also eine irgendwie anregend schräge Persönlichkeit, heldenhaft sozial, herausfordernd schlau, konsequent böse oder wenigstens peinvoll amourös? Wer würde eine Biografie über Joseph Haydn kaufen? Oder dessen Leben opulent verfilmen?

Niemand, behauptet Wolfgang Amadeus Mozart (Christoph Jöde) im Stück „33 Variationen auf Haydns Schädel“ am Deutschen Schauspielhaus – und kritisiert, sein Tonsetzer-Kumpel sei schwer zu vermarkten, habe nix genialisch Verruchtes. Er solle doch mal auf ihn, Mozart, schauen, wie er seinen Reichtum verplempere und den kunterbunten Hund gebe, mal kokett, mal obszön, gern provokativ – also viele Aufmerksamkeitsreize liefere. Auch nicht schlecht funktioniere PR-mäßig der Kollege Beethoven dank Mitleid erregender Taubheit und feurigem Revoluzzer-Getue. Haydn (Jan-Peter­Kampwirth) lässt das kalt: Er zeigt kein Interesse, der Nachwelt irgendetwas anderes als seine Musik zu hinterlassen.

Der Burgenländer lebte und arbeitete vor allem für die Esterházys, eine alteingesessene ungarische Aristokratenfamilie. Er komponierte aber auch für den österreichischen Kaiser Franz, beispielsweise einen Geburtstagsgruß als patriotischen Beitrag gegen die republikanische Marseillaise-­Gesänge der gerade durch Europa wütenden Truppen Napoleons. Das pathetische Stück wurde 1922 mit anderem Text zur deutschen Nationalhymne; was Haydn zwar berühmt, aber auch nicht weiter bekannt machte. Obwohl er, kurz abgeworben nach London, sogar mal als Popstar gefeiert wurde. Daheim war er Inspirator des Mitreißers Mozart sowie des Überwältigungsgenies Beethoven und damit Begründer der bis heute Konzertprogramme bevölkernden Wiener Klassik.

Unfassbar kreativ war dieser Haydn. Nicht neun, sondern 104 Sinfonien und 23 Opern verzeichnet sein 1.200 Werke umfassendes Œuvre. Als fleißiger Handwerker und langweiliger Auftragsschreiber wurde Haydn immer mal wieder abqualifiziert, weil er melodietrunken und humorvoll mit viriler Eleganz die Musikformate seiner Zeit bediente, deren Grenzen austestete – sie aber nicht neutönerisch überschritt. Diesem dienenden Geist seiner Vorfahren widmete der 2016 verstorbene Péter Esterházy sein Stück. Warum? Das soll Regisseur Viktor Bodó mit der deutschen Erstaufführung vermitteln.

Die „33 Variationen“ nun sind ein hochironisches Textspiel über Starkult, Kulturschickeria und Kunst auf Bestellung, durchzogen von Österreich-Hohn. Abgeschoben scheint der Held von der feudalen Gesellschaft in ein gruftiges Kellerloch, in dem ein Kammerorchester die Instrumente stimmt. Maestro Haydn will, aber er kann nicht losdirigieren, ständig tönt Glocken-, Baby-, Hunde-, Auto-, Flugzeug-, Bohrmaschinenlärm herbei – bis ein Musiker sagt: „Von Gewerkschaftsseite wäre jetzt eine Pause angesetzt.“ Also Pause. Die Engelstatue entpuppt sich als Lina Beckmann, die mit schnoddrig philosophischen Conférencen die fortan locker gemixten Geschichtchen auch nicht zu einer Geschichte verknoten will: „Warum soll ich hier die dramaturgischen Probleme lösen?“

Das Stück delektiert sich daran, mit losen Enden szenischer Entwürfe in immer wieder neuen stilistischen Anläufen zu jonglieren. Regieanweisungen werden gesprochen statt gespielt, Haydn-Hits als Medleys abgefrühstückt. Viel leidenschaftlicher aber kommt „Oh! Darling“ von den Beatles zu Gehör, völlig selbstvergessen verliert ein Musikanten-Darsteller bei der Intonation jedwede Façon. Plötzlich jubelt das Ensemble über Ferenc Puskás’1:0 im Fußball-WM-Finale Bundesrepublik gegen Ungarn, 1954 in Bern. Später feiert es pantomimisch eine Fliegen-Attacke aufs Orchester. Mozart steckt sich zwischendurch mal eine Trompete in den Arsch und spielt sie mit seinen Fürzen. Während Haydn stets bescheiden am Bühnenrand herumkomponiert und pianiert.

Um Haydns Genialität zu beweisen, wurde sein Schädel aus dem Grab stibitzt – was erst Jahre später bemerkt wurde

Diesen braven Tonsetzer genauer zu porträ­tieren, seiner Verharmlosung zum Biedermann grundsätzlich entgegenwirken, versagt sich die Inszenierung bereits mit der zum Titel addierten Genrebezeichnung „Revue“. Übersteigernd verdichtet die Regie die Impressionen von, mit und über Haydn zu Anekdoten. Jan-Peter Kampwirth gibt den „Joschi“ als mal verdrucksten Riesen auf Pumps, mal bodenständig traurigen Stoffel: ein stets deplatziert wirkender Kauz zwischen den Dienst-nach-Vorschrift-Musikanten und dem höfischen Getue. Am liebsten verkriecht sich der Workaholic halt in die Arbeit, beim Komponieren seine humorvollen Finessen beschwingt auszuformulieren. Rührend vergeblich die Versuche einer Sängerin, ihn erotisch zu becircen. Rührend höflich Haydns Umgang mit ihrem talentlos fidelnden Gatten im Zorro-Kostüm.

Und dann ist da noch die real-groteske Geschichte mit dem Totenkopf, der vom Bühnenhimmel baumelt. Es geht um Fans des kraus denkenden deutschen Anatoms Frank Joseph Gal (1758– 1828). Der behauptete, dass sich Begabungen, Neigungen und Charaktereigenschaften in aktiven oder passiven, sich deswegen ausdehnenden oder zusammenziehenden Hirnregionen äußerten – was entsprechende Ausbeulungen oder Eindellungen der Kopfknochen zur Folge habe. Um die Genialität Haydns derart zu beweisen, stibitzten Gall-Jünger also des Komponisten Kopf aus dem Grab, was erst Jahre später bemerkt wurde – als der Leichnam mal umgebettet werden sollte. Derart lange unentdeckt prunkte das Haupt anfangs auf einem roten Kissen bei den Dieben, später als Reliquie in einer Ausstellung des Wiener Musikvereins – und konnte erst 1954 mit den Knochenresten Haydns wieder vereint werden.

All das wird lustig erzählt und angespielt, aber ohne höheres Erkenntnisinteresse; einfach nur eine weitere komische Episode dieses auf Ulk und Dollerei setzenden Abends. Dem Haydn beiwohnt, freundlich gelassen und höchst befremdet, aber nicht weltfremd. Zu zeigen, wie man in – und zugleichauch erhaben jenseits – der eitlen Kulturwelt kreativ in sich ruhen kann, das gibt der Inszenierung ihren Mehrwert. Und es macht Haydn auch als Menschen interessant.

Weitere Vorstellung: 13. 2., Hamburg, Deutsches Schauspielhaus (zurzeit ausverkauft, evtl. Restkarten)