Der Hausbesuch: Sie loten den richtigen Weg aus

Im Ruhrpott liebt man Familie. Auch Marleen Derißen und Mats Welzbacher sprechen über Kinder. Aber auch darüber, wie Kind und Arbeit vereinbar sind.

Zwei Menschen sitzen nebeneinander in eine rWohnung.

Beamten-Paar Mats Welzbacher und Marleen Derißen Foto: Andreas Teichmann

Wenn es nach ihr geht, ist der Weg klar vorgezeichnet. Er hingegen mäandert. Das muss nicht unbedingt Konflikt bedeuten. Marleen Derißen (28) und Mats Welzbacher (29) gehen aufeinander zu.

Draußen: Derißen und Welzbacher wohnen mitten im Ruhrpott, im Essener Südviertel, also am Stadtrand. Es regnet. Eine Textilreinigungsfirma macht gerade ein Angebot. An das Schaufenster sind große Buchstaben geklebt: „Brautkleider ab 30 Euro“.

Drinnen: Marleen Derißen hat noch kein Brautkleid. Es ist kaum ein Jahr her, dass sie und ihr Freund Mats Welzbacher in die 3-Zimmer-Wohnung gezogen sind. Auf dem Balkon mit Blick zum großen Garten wird geraucht, auch wenn es regnet. Hier ist mehr Platz als in der Küche, die aussieht wie aus einem Katalog – sie strahlt und glänzt. Im Wohnzimmer stehen große Möbelstücke, aber kaum Nippes. Nur am Fenster gibt es einige kleine Dekoobjekte, symmetrisch nebeneinandergestellt. Welzbacher meint, er habe vor dem Hausbesuch gründlich aufgeräumt.

Ruhrpott: Auch Hagen, wo er groß geworden ist, gehört zum Ruhrpott. Wie die Nachbarstadt Oberhausen, der Geburtsort seiner Freundin. Die Kultur und die Mentalität machten den Unterschied, meinen die beiden. Er, der Hagener, sei ruhig, diplomatisch und druckse oft lange herum. Sie, die Oberhauserin, sei straighter, ehrlicher, direkter und spreche klare Worte. Im Vergleich zu ihr, sagt Mats Welzbacher, schaffe er es nicht oft, Nein zu sagen.

Die Erziehung: Sie ist Beamtin. Ob es das ist, was sie so streng und gradlinig macht? „Es ist die Erziehung“, antwortet sie. „Wenn mein Vater gesagt hat, um neun Uhr muss ich zu Hause sein und ich bin zwei nach neun heimgekommen, war das schon zu spät.“ Unpünktlichkeit möge sie deshalb auch heute noch nicht und sie werde sehr schnell sauer, wenn jemand sie warten lasse. Sie schaut einige Male auf die Zeiger ihrer Armbanduhr, während sie durch ihre Wohnung führt und von ihrem Job erzählt.

Die Beamtin: Marleen Derißen hat Wirtschaftswissenschaften studiert. Mittlerweile hat sie einige Arbeitsstellen gewechselt. Vom Landesamt für Finanzen zur Finanzverwaltung in Nordrhein-Westfalen. Heute betreut sie die Digitalisierungsprojekte bei der Fortbildungsakademie des Landes NRW. „Ich möchte Beamtin bleiben“, sagt Derißen. „Weil ich eine Frau bin und finanziell abgesichert bleiben will.“

Zwei Menschen schauen aus einem Fenster.

Ausblick Essen-Huttrop: Marleen Derißen und Mats Welzbacher am Fenster Foto: Andreas Teichmann

Pragmatisch: Drei Jahre sind die beiden ein Paar. Marleen Derißen wollte mit Mats Welzbacher schnell zusammenziehen. „Ich wollte es lieber früher ausprobieren, ob wir zusammen passen“, sagt sie. Sie wohnte damals in einer kleinen Wohnung und suchte etwas Besseres. Ihr Freund wiederum hatte sein Studium in Politik und Wirtschaft in den Niederlanden beendet und kehrte zurück. So ergab es sich, dass sie zusammenzogen. „Obwohl ich am liebsten erst das Zusammensein und dann das Zusammenwohnen getestet hätte“, sagt er.

Kinderwunsch: In Essen wohnen auch andere aus der Familie, Geschwister, Eltern, Nichten, Neffen. Da sei immer was los. Derißen will zum Trubel beitragen, sie will Kinder. „Ich bin nicht mehr Anfang 20. Die Zeit läuft“, sagt sie. In den nächsten zwei, drei Jahren ist das mit dem Mutterwerden geplant. „Am besten ein Junge. So ein kleinen Mats.“ Und der große Mats ist still. „Kinderwunsch habe ich auch. Doch nicht gerade jetzt. Ich habe Hobbys in alle Richtungen.“ Das Thema ist ein heißes Eisen und kommt nicht selten auf den Tisch. Und wenn für ihn kein Kind infrage kommt? „Das wäre definitiv ein Grund zur Trennung für mich“, antwortet sie. „Am Ende ist es wichtig, dass wir beide glücklich sind.“

Emotionen im Job: Wenn nur die Arbeit nicht so sehr belastend wäre, meint Mats Welzbacher. „Ich bin zu emotional involviert in meine Arbeit. Ich kriege den Abstand nicht hin, und das macht mich fertig.“ Er arbeitet im öffentlichen Dienst im Jobcenter. „Als Arbeitsvermittler muss ich ein Vertrauensverhältnis schaffen“, so lautet seine Devise. „Die Arbeitsuchenden müssen zu mir ehrlich sein. Wenn sie mir vorlügen und nicht kooperativ sind, kann ich nichts für sie machen.“ Leider gebe es viele solcher Fälle.

Sanktionieren im Jobcenter: Kun­d*in­nen werden die Arbeitsuchenden im Jobcenter genannt. Arbeitsvermittler wie Welzbacher müssen die Kun­d*in­nen in Arbeit bringen. Doch wenn sie die Zusammenarbeit verweigern, müssten sie dem Gesetz zufolge sanktioniert werden, erklärt er. Wenn sie etwa nicht zu einem vereinbarten Gesprächstermin erscheinen, werden zehn Prozent von der Grundsicherung für drei Monate abgezogen. Bestraft man die Menschen also für ihre Arbeitslosigkeit oder hilft man ihnen dabei, ihre Arbeitslosigkeit zu bekämpfen? „Wir bestrafen. Und ich bin dagegen“, sagt er. „Ich habe noch nie sanktioniert“, bekennt Welzbacher. Deswegen bekomme er aber auch „Mitteilungen“ von der Leitung. Der Druck werde von oben nach unten weitergegeben.

Kritik: „Es ist auch unser Fehler, weil wir die Situationen der Menschen ohne Arbeit teilweise falsch eingeschätzt haben und oft Menschen in falsche Berufe und Umschulungen gedrängt haben“, meint er. Auch in seinem Beruf gibt es Personalmangel. Pro Ver­mitt­le­r*in gebe es 300 bis 350 Kund*innen. Wenn Welzbacher die Arbeitszeit rechnet, dann habe er nur ein paar Minuten Zeit für eine Person. „Dagegen findet für einen Antrag von sechs Euro ein riesen Prüfverfahren statt. Ich frage mich, wozu?“

Die andere Seite der Medaille: Dass Marleen Derißen anderer Meinung ist, zeigt ihr Gesichtsausdruck. „Mats ist der Gutmensch, doch muss er lernen, sich abzugrenzen.“ Sie weiß, wovon sie redet. Sie hat zwei Jahre eine ähnliche Arbeit im Landesamt für Finanzen gemacht. Ihre Haltung zu ihrer Kundschaft sei strenger gewesen: „Ihr habt Kinder, ihr müsst arbeiten gehen. Punkt.“ Sie mache da keine Kompromisse und habe kein Mitgefühl, wenn zum Beispiel jemand 25 Jahre als Drucker gearbeitet hat und sich nun weigert, einen Job in einer Bäckerei anzunehmen. Keine Ausnahmen? „Nur wenn die Menschen krank sind, habe ich Verständnis“, sagt sie.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Harte Arbeit: Sie redet aus eigener Erfahrung. Als sie 12 Jahre alt war, fing sie an zu arbeiten. Als Türsteherin, Kellnerin, Helferin für Behinderte in Sportgruppen, später als Mitarbeiterin bei der Inventur, wo sie in einem riesigen Laden stand und die einzelnen Schrauben mit einem Gerät anpiepste. „Ich musste immer arbeiten neben meinem Studium, denn mit BAföG zu studieren war nicht leicht, wenn man keinen finanziellen Hintergrund hatte.“ Deswegen habe sie auch kein Verständnis für Menschen, die in einer Notsituation wählerisch sind oder den Sozialstaat ausnutzen wollten, weil es auf der Couch mit Hartz IV bequemer sei. „Wenn man damit glücklich ist, lass sie das machen, doch wenn Kinder dranhängen, habe ich null Verständnis.“

Eine Fußmatte.

Fußmatte vor der Wohnungstür Foto: Andreas Teichmann

Perspektive: Welzbacher will nicht mehr lange beim Jobcenter bleiben. Auch wenn die Menschen sich freuen würden, wenn sie ihn am Telefon hätten. An seinen Kol­le­g*in­nen aber erkennt er: „Je länger man diesen Job macht, desto zynischer wird man.“ So weit will er es nicht kommen lassen. Er will bei der Stadt Essen arbeiten. Klimaschutzmanagement in der Kommune, das wünscht er sich für die Zukunft. Dabei soll ihm seine Fähigkeit helfen, „Menschen zuhören und sie zusammenbringen zu können“.

Politik und Sport: „Ich komme aus der linken Sparte“, sagt Welzbacher. „Früher war ich gegen das gesamte System.“ Bis ins Alter von 23 Jahren war er solidarisch mit den Linken. Mittlerweile nicht mehr. Ob er kapitalistisch geworden sei? „Das würde ich nicht sagen. Ich verstehe besser, dass finanzielle Sicherheit wichtig ist, und ich stelle Ideologien und Utopien nicht mehr über alles.“ Für Fridays for Future geht er in seiner Stadt schon noch demonstrieren. Auch seine Freundin hat Sympathie für die Grünen. Früher war sie SPD-Mitglied, aber die Partei habe sie mit ihrer langweiligen Agenda genervt. Sie stehe aber sowieso mehr auf Sport als auf Politik, erzählt sie. Ihr ganzes Leben schon spiele sie Basketball. Und dabei habe sie auch ihren Mats kennengelernt. Sie sind schon ein sportliches Paar.

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