orte des wissens
: Wo den Neu-Rechten die Runen entwunden werden

Gegründet, um völkisch zu raunen, entzaubert die Göttinger Skandinavistik heute Germanenideologie

„Schmerzlich und besorgniserregend, diese nazizeitliche Umdeutung von Runen! “

Von Harff-Peter Schönherr

Alte Schriften faszinieren, auch wenn sie längst enträtselt sind. Einer der Orte, an denen sie weiterleben, ist die Universität. Studierende beugen sich über die Keilschrift der Sumerer, die Rongorongo-Tafeln der Osterinsel, die Hieroglyphen des Alten Ägypten.

Auch das Skandinavische Seminar der Georg-August-Universität Göttingen, angedockt an die Philosophische Fakultät, hat das Potenzial zu solchen Momenten. Hier sind es die Runen, verwendet bis vor 500 Jahren. Klar, Runologie gibt es hier nicht mehr, zumindest nicht wie zu Zeiten des Mediävisten Klaus Düwel. Es geht um Henrik Ibsen und Astrid Lindgren, um das Erlernen von Dänisch, Norwegisch, Schwedisch und Isländisch, um Kinderbücher und Science Fiction, um Landeskunde, um Sozial- und Gesellschaftswissenschaftliches.

Aber manchmal, da ist die alte Expertise eben doch noch gefragt. Wie Anfang 2019, als sich im Umfeld von Göttinger Universitätsgebäuden plötzlich Runen eingeritzt fanden, mit Goldfarbe besprüht, u. a. an einem Denkmal für NS-Zwangsarbeiter. „Alarmierend!“, sagt Roland Scheel der taz, Direktor des Skandinavischen Seminars. „Schmerzlich und besorgniserregend, diese nazizeitliche Umdeutung von Runen! Neurechte Gruppierungen bemächtigen sich der Geschichte, und die akademische Erklärungshoheit geht immer mehr verloren.“ Für Scheel ist klar: „Unsere Verpflichtung ist es, da Aufklärung zu betreiben!“

Und das geschieht. Vorlesungen wie „Germanenrezeption und Germanenideologie“ zeugen davon, Wintersemester 2019/20. Hier ging es nicht zuletzt um das Germanen(zerr)bild des SS-Ahnenerbes. Auch die Geschichte des Seminars selbst gibt dafür Anlass: Es wurde 1935 gegründet. „Da wurde Gustav Neckel aus Berlin hierhin zwangsversetzt“, sagt Scheel. „Ein sehr völkischer Forscher.“

Skandinavistik ist ein kleines Fach. In Göttingen zählt es derzeit gut 100 Studierende. Nur ein Dutzend Seminare gibt es deutschlandweit. Aber manchmal sind auch die Kleinen stark: Durch eine Demo mit Botschaften wie „Skandilos wär skandalös“ oder „Göttingen, die Stadt die Wissen abschafft! Skandi bleibt!“ und Petitionsappelle wie „Lasst die Orchideen blühen!“ wurde 2021 die Streichung des Fachs verhindert – gegen Sparmaßnahmen des Landes Niedersachsen.

„Der Widerstand war sehr graswurzelartig“, sagt Scheel. „Da war viel Loyalität zu spüren, das hat mich sehr begeistert.“ Rückendeckung kam von mehreren skandinavischen Botschaften, von Kollegen aus dem In- und Ausland. Aber rosig ist die Lage heute nicht, denn Einsparungen blieben nicht aus: „Sie ist maximal prekär“, sagt Scheel, und die Frustration ist ihm anzumerken. „Personell sind wir extrem ausgedünnt.“

Früher war das Göttinger Skandinavistik-Seminar eines der mittelgroßen, jetzt ist es eines der kleinsten. Würde es sterben, hätte Niedersachsen keine Skandinavistik mehr: Scheels Institution ist die einzige dieser Art im Land. Damit wäre auch ihr Skandi-Chor Geschichte. Und das Lucia-Fest an Weihnachten, Kerzenkränze inklusive. Zwischendrin erzählt Scheel von Guido von Lists Armanen-Runenreihe. Die ist esoterischer Mystifikations-Unsinn, erfunden im Wilhelminismus. Ganz gut also, dass es in Göttingen noch immer Runenkundige gibt. Sie kontern die Neurechten mit Wissenschaft aus.