Arme und Reiche werden sichtbar

Bewegungsprotokolle von Covid-Fällen in Peking lösen Debatte aus

Von Fabian Kretschmer

Wie in kaum einer anderen Stadt in China prallen in Peking dekadenter Reichtum und bittere Armut aufeinander: Im Ausgehviertel Sanlitun fahren die Söhne von Parteibonzen ihre knallbunten Ferrari spazieren, während an den Straßenecken greise Frauen in zerlumpter Kleidung um Almosen bitten. Die Ungleichheiten sind sichtbar, werden aber selten öffentlich thematisiert.

Ausgerechnet die ersten zwei Covid-Infektionen des neuen Jahres haben nun eine längst überfällige Debatte ausgelöst, nachdem ihre Bewegungsprofile online veröffentlicht wurden: Da wäre die Frau aus dem gehobenen Haidian-Bezirk, wo die renommiertesten Schulen der Stadt angesiedelt sind. Ihre Tage scheinen einem nicht enden wollenden Marathonlauf zwischen Nobelrestaurants und Designerboutiquen zu gleichen. Kaum vier Tage später veröffentlichten die Behörden das Bewegungsprofil eines weiteren Infizierten: Der Mann aus dem Bezirk Chaoyang hatte innerhalb der letzten 14 Tage rund 30 unterschiedliche Tagelöhnerjobs angenommen: Er trug Zementsäcke, sortierte Abfälle und durchsuchte Müllhalden nach weiterverkäuflichen Metallen. Chinas Nutzer auf den sozialen Medien legten die Bewegungsprofile nebeneinander – und waren geschockt über die unterschiedlichen Lebensrealitäten in ihrer Heimat.

Die lokalen Medien machten den 44-jährigen Mann ausfindig: Yue Zongxian aus der Küstenprovinz Shandong zog vor zwei Monaten in die chinesische Hauptstadt, wo er die Suche nach seinem seit August vermissten Sohn fortgesetzt hat. Die Polizei hat Herrn Yue den verwesten Körper eines jungen Mannes präsentiert, der sich das Leben genommen haben soll. Herr Yue glaubt jedoch nicht daran, dass dies sein Sohn war, und sucht weiter.

Es gibt deutlich mehr Herr Yues in China, als es die glitzernden Wolkenkratzerfassaden von Shanghai und Shenzhen vermuten lassen. Vor zwei Jahren rief Premierminister Li Keqiang der Bevölkerung eine ernüchternde Statistik in Erinnerung: 600 Millionen Chinesen müssten nach wie vor mit unter 1.000 RMB pro Monat zurechtkommen, das sind umgerechnet rund 140 Euro.

Die Leidensgeschichte von Yue Zongxian löste unter vielen Chinesen derartige Empathie aus, dass sie den 44-Jährigen mit virtuellen „hongbao“ überhäuften. Die „roten Briefumschläge“ schlug Yue allerdings allesamt aus. Er wolle keine Spendengelder aus Mitleid erhalten.