Nactaufnahme des Willy-Brandt-Hauses, der Parteizentrale der SPD in Berlin, Wilhelmstraße

Hier wird um die neue Ostpolitik gerungen: Abendhimmel über der SPD-Parteizentrale in Berlin Foto: Paul Zinken / dpa

SPD ringt um neue Ostpolitik:Was tun mit Putin?

Die SPD muss sich wegen der Ukrainekrise neu orientieren. Inzwischen wird selbst die Gaspipeline Nord Stream 2 vorsichtig infrage gestellt.

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22.1.2022, 19:00  Uhr

In dieser Woche prasselte ein mediales Trommelfeuer auf die SPD nieder. Die Scholz-Partei sei naiv, verzagt und einer Russlandobsession verfallen. So tönte es von Welt bis Zeit, von Spiegel bis zur Neuen Zürcher Zeitung. Die Parteispitze ist in diesem recht frostigen Meinungsklima weitgehend weggetaucht. Kein Kommentar, hieß es aus dem Willy-Brandt-Haus. Jetzt sei die Regierung gefragt.

SPD-Chef Lars Klingbeil skizzierte am Donnerstag in einem TV-Interview dann aber doch die Linie der Partei: Man müsse mit Russland sprechen. Moskau aber müsse wissen, dass einem Krieg gegen die Ukraine ökonomische Sanktionen folgen – ohne zu sagen, welche. Die Jusos tüfteln derweil an einem Text zur Russlandpolitik. Er soll deutlicher, als es in der SPD derzeit Usus ist, die russische Aggression benennen und Anfang nächster Woche veröffentlicht werden.

Derzeit können SozialdemokratInnen, die in vielen Medien als hoffnungslose Entspannungsnostalgiker oder begriffsstutzige Putin-Versteher abgestempelt werden, beim Thema Russland wenig richtig machen. Fast kann man den Eindruck haben: Wäre die SPD nicht so russophil und retro, Außenministerin Annalena Baerbock hätte die Ukrainekrise längst mit zackigen Ansagen gelöst. „Viele Kritiker der SPD gehen intuitiv davon aus, dass es nur Sicherheit gegen Russland gibt. Aber sie haben das nicht zu Ende gedacht“, sagt Gesine Schwan, 78, Leiterin der SPD-Grundwertekommission. Sie ergänzt: „Die Idee gemeinsamer Sicherheit ist nicht altbacken. Ihr gehört die Zukunft.“ Aber lautet die Frage nicht eher, ob die Politik der 1970er Jahre, als sich West und Ost als Blöcke gegenüberstanden, heute noch brauchbar ist? Oder vielmehr: Welche Elemente davon?

Das Bild der SPD als gusseiserner Egon-Bahr-Erbengemeinschaft ist jedenfalls zu schlicht. In der Partei bricht immer mal wieder Streit um den Russland-Kurs auf. Im Jahr 2018 schlug SPD-Außenminister Heiko Maas scharfe Töne gegenüber Moskau an. Dagegen opponierten damals andere SPD-Spitzenpolitiker. In der Partei prägen mehrere Gruppen und Interessen die Russland-Politik. Es gibt Entspannungspolitiker, die vor Eskalation mit Moskau warnen, und Transatlantiker, denen das Bündnis mit den USA über alles geht. Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der auf der Payroll von Gazprom steht, spielt im Hintergrund noch eine Rolle. Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin in Schwerin, engagiert sich für die umstrittene, noch nicht genehmigte Gaspipeline Nordstream 2 – denn die bringt Geld in den Nordosten.

Auf der anderen Seite verblüffte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht kürzlich mit der Idee, „Putin und sein Umfeld ins Visier“ zu nehmen und zu verhindern, dass die Moskauer Elite weiter auf den Pariser Champs Élysées shoppen geht. Die SPD ist also vielstimmiger, als es auf den ersten Blick scheint. Das Schema rechter versus linker Flügel taugt als Ordnungssystem bedingt. Die Partei ist in einer Suchbewegung.

Eine klarere Ansage Richtung Putin fordert etwa Michael Roth (51). Er war unter Maas Staatsminister im Auswärtigen Amt, jetzt ist er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses – eine Schlüsselposition. Roth sagt: „Wir sind in einer Situation, in der Russland 100.000 gefechtsbereite Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen hat. Die Verantwortung für die aktuelle militärische Zuspitzung liegt alleine in Moskau.“ Roth bezeichnet sich als Entspannungspolitiker, man müsse aber die politischen Realitäten in den Blick nehmen. „Dialogbereitschaft muss mit Wehrhaftigkeit gepaart sein“, sagt Roth der taz. Das ist auch das Wording der Grünen, die gegenüber Russland „Dialog und Härte“ (Annalena Baerbock) fordern.

Für Mützenich und Stegner gehört Entspannungspolitik zur DNA der SPD

Konsens ist, vom Weißen Haus in Washington bis zum Deutschen-Russischen Forum: Es wird keine militärische Antwort geben. Die Nato wird auch im schlimmsten Fall, einem russischen Angriff auf die Ukraine, nicht zu den Waffen greifen. Die EU und Berlin setzen auf Diplomatie. Gerade deshalb, so die Logik von Michael Roth, „sind Sanktionen ein wichtiges Element“, um Druck auf Russland zu entfalten. Dazu muss, meint Roth, auch Nord Stream 2 gehören, zumal „einige unserer europäischen Partner“ die Pipeline „von Anfang an kritisch gesehen haben“. Damit sind vor allem vor allem Polen und die baltischen Länder gemeint, die das Projekt ablehnen.

Roth und auch die Grünen werben schon lange dafür, deren Interessen stärker in den Blick zu nehmen. „Manche gehen fälschlicherweise davon aus, dass wir aus historischer Perspektive nur eine Verantwortung gegenüber Russland haben. Die haben wir auch gegenüber den anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, auch gegenüber dem Baltikum und der Ukraine“, sagt der SPD-Außenpolitiker.

Das sei auch ein wesentlicher Unterschied zur klassischen Ostpolitik, die auf Wandel durch Annäherung setzte. Damals war die SPD-Außenpolitik zu Recht auf Moskau fokussiert – denn dort lag der Schlüssel zur Lösung der Probleme. „Heute sind die mittel- und osteuropäischen Staaten souveräne Staaten, die frei über ihren Weg entscheiden“, sagt Roth.

Putin lässt Truppen an der ukrainischen Grenze aufmarschieren. In Moskau wurde die antistalinistische NGO Memorial verboten. Der russische Geheimdienst ermordet Regimegegner im Ausland. Zudem fordert Putin, dass nicht nur die Ukraine, sondern auch Finnland und Schweden nie Mitglied der Nato werden dürfen. Das sei, so die Ansage, nicht verhandelbar.

Ist Entspannungspolitik also von gestern und kein brauchbarer Instrumentenkasten mehr? Verharmlost die SPD die Gefahr, die von Putin ausgeht? „Das glaube ich nicht“, sagt Ralf Stegner (62). Stegner ist schon lange im politischen Geschäft, aber erst seit ein paar Monaten im Bundestag und dort im Auswärtigen Ausschuss. Der moderate SPD-Linke weiß vor allem, was derzeit schadet. „Öffentliche Sanktionsdrohungen, Ankündigungen von Waffenlieferungen und markige Interviews bewirken nichts. Das ist unhistorisch und dumm.“

Der mediale Diskurs hierzulande läuft verquer, so sehen es Stegner und auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. „Wer zu Differenzierungen rät, wird als Putin-Versteher dargestellt“, sagt Stegner der taz. In der öffentlichen Debatte würden kernige Ansprache mit realer Politik verwechselt. Dabei habe die Entspannungspolitik doch gezeigt, dass es darum gehe „Vorschläge zu machen und keine Drohungen ausstoßen“, so Stegner.

Für Mützenich und Stegner gehört Entspannungspolitik zur DNA der SPD und auch der eigenen Biographie. Sie sind politisch mit den Auseinandersetzungen um die Pershing-Raketen in den 80er Jahren groß geworden.

Im Kern des aktuellen Streits steht auch die Frage, welche Rolle Deutschland gegenüber Russland spielt. Für die Entspannungsfraktion ist klar: Berlin soll moderat und vermittelnd auftreten – und scharfe Töne meiden, die als Provokation verstanden werden können. Als Paradebeispiel gelungener Diplomatie gilt ihr das Iran-Atom-Abkommen, das nach jahrelangen Verhandlungen geschlossen wurde, um eine atomare Aufrüstung Teherans zu verhindern. Das Abkommen kam, trotz harter Gegenwehr und wesentlich forciert von dem damaligen SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier, zu Stande. Dass Trump es später zerstörte, spricht nicht gegen das Abkommen. Was mit dem Mullah-Regime gelang, kann auch mit Moskau funktionieren. Man braucht nur einen langen Atmen.

Die Rhetorik von Stegner hat in Sachen Russland indes einen Schwachpunkt. Bei der Frage möglicher Sanktionen, falls Putin weiter eskaliert, wird er schmallippig. Auch Willy Brandt habe „nie mit Sanktionen gedroht, sondern verhandelt und versucht, gemeinsame Sicherheitspolitik zu machen“ sagt Stegner. Mag sein. Ein einleuchtendes Argument, Moskau nicht auch öffentlich nachdrücklich klar zu machen, dass eine Eskalation teuer werden würde, ist das nicht.

Wie also kann eine Entspannungspolitik 2.0 aussehen? Gesine Schwan zählte nicht zu den Fans von Egon Bahr und war mit der zweiten Phase der SPD-Entspannungspolitik Ende der 1980er Jahre ziemlich über Kreuz. Ihr fehlte damals die klare Abgrenzung der SPD zu den realsozialistischen Regimen. „Die SPD hat die komplexen Fragen einer neuen Ostpolitik seit 20 Jahren nicht wirklich diskutiert“, kritisiert Schwan. Deshalb fehle bisher eine durchdachte Antwort auf die Frage, wie man „die Sicherheitsbedürfnisse Moskaus ernst nimmt, ohne Steigbügelhalter von Putin zu werden“. Das ist eine Schlüsselfrage – und die Entspannungspolitik 2.0 für die SPD noch work in progress.

Matthias Platzeck (68), Vorsitzender des deutsch-russischen Forums, gilt vielen, neben Altkanzler Gerhard Schröder, als der Putin-Versteher in der SPD. „Vielleicht haben wir uns in den 1990ern, als Russland wirtschaftlich und militärisch am Boden lag, zu sehr abgewöhnt, daran zu denken, dass auch Russland eigene Interessen hat“, sagt Platzeck der taz. Ihm gehe es beileibe nicht darum, Putin zu verteidigen, sondern den Frieden in Europa zu wahren und aus der Konfrontationslogik auszusteigen. Die Russlandpolitik des Westens, so sieht es der frühere Bürgerrechtler und Ex-Ministerpräsident von Brandenburg, setze „seit 2014 nur auf verschärfte Sanktionen“. Doch diese hätten weder in Bezug auf die Krim, noch in Bezug auf den Konflikt in der Ostukraine genutzt. Nötig wären daher mehr Dialogangebote bloß nicht noch mehr Sanktionsdrohungen, meint Platzeck.

Aber ist es nicht ein Zeichen von Schwäche, nur auf nette Angebote zu setzen, wenn Russland Truppen aufmarschieren lässt? Und ist es klug, die Pipeline Nord Stream 2 aus dem Sanktionskatalog vorab zu streichen? Platzeck entgegnet: „Wenn Putin wirklich in die Ukraine einmarschiert, dann ist die Pipeline das geringste unserer Probleme. Dann stehen wir am Rand einer größeren Auseinandersetzung.“

Wenn Russland die Ukraine militärisch angreift, ist Nord Stream 2 tot, sagen nun fast alle in der SPD

Nord Stream 2, die Pipeline, die 25 Millionen Haushalte in Westeuropa mit russischem Gas versorgen kann, wird für Russland ein einträgliches Geschäft. Wenn die fehlenden Genehmigungen, die erst in Monaten kommen, da sind. Die SPD hält die Pipleline für nötig, um den Ausstieg aus Atomkraft und Kohle zu managen. Die Pipeline ist aber mehr: für Moskau ein politisches Prestigeobjekt, das Russland direkt mit Deutschland ohne Umweg über Polen und Ukraine verbindet. Für viele in der SPD ist die Gasconnection materielle Entspannungspolitik. Euro gegen Gas. Wechselseitige Abhängigkeiten dämpfen Konflikte. Auch in der Hochzeit des Kalten Krieges floss immer Gas aus Sibirien nach Deutschland.

Doch der Glaube, dass Nord Stream 2 ein zwingender, zentraler Bestandteil jeder auf Friedenserhalt geeichten Ostpolitik sein muss – er bröckelt in der SPD. Kanzler Olaf Scholz hat seine Wortwahl in dieser Woche den neuen Umständen angepasst. Erst hatte er verkündet, die Gaspipeline sei eine „privatwirtschaftliche“ Angelegenheit. Das war eine originelle Formulierung. Die Pipeline ist ein seit Jahren in der EU hart umkämpftes geostrategisches Projekt, das Russland und Deutschland verbindet und die Ukraine als Gas-Transitland überflüssig machen kann. Merkel und Biden hatten sich im Sommer 2021 nach langem Ringen auf einen Kompromiss im Pipeline-Streit verständigt: Die USA akzeptieren die Gastrasse, Berlin verpflichtet sich darauf zu achten, dass Putin Nord Stream 2 nicht benutzt, um die Gasleitung durch die Ukraine, eine wichtige Einnahmequelle für Kiew, still zu legen.

Scholz hat nun einen neuen Kurs abgesteckt, diplomatisch vorsichtig, aber doch ausreichend klar. Bei einem Angriff auf die Ukraine würden natürlich „alle Sanktionen diskutiert“ – also auch Nord Stream 2. „Wenn Russland die Ukraine militärisch angreift, ist Nord Stream 2 tot“, sagen mittlerweile fast alle SPD-Außenpolitiker. Manche laut, andere leise. Vor zwei Wochen war das noch anders. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert (32) forderte ein Ende des Streits über Nord Stream 2 und beflügelte die Debatte damit erst recht.

Im Wahlkampf hatten sich SPD und Grüne in der Russlandpolitik noch mit Verve beharkt. In den Koalitionsverhandlungen wurde hart um jedes Wort gerungen. Die Grünen betonten Werte und Moral, die SPD wollte in der Ostpolitik davon lieber nicht zu viel. Die SPD setzt eher auf Regierungskontakte in Moskau, die Grünen auf NGOs in Russland. Im Sommer hatte sich Robert Habeck in der Ukraine mit Stahlhelm ablichten lassen und deutsche Waffen für Kiew gefordert. Das hat Außenministerin Annalena Baerbock in dieser Woche in Kiew korrigiert. Es wird keine Waffenlieferungen aus Deutschland geben. Eine massive Aufrüstung der Ukraine durch Berlin würde die russische Seite als Provokation deuten – und Krieg wahrscheinlicher machen. Das würde auch die Rolle Deutschlands als Vermittler beschädigen.

Der rot-grüne Streit scheint damit beigelegt. Adis Ahmetovic (28), für die SPD im Auswärtigen Ausschuss, lobt, die Rhetorik der Grünen habe sich erfreulicherweise gewandelt. Der SPD-Linke Stegner rühmt: „Baerbock hat mit erfrischender Klarheit in Kiew gesagt, dass Berlin keine Waffen an die Ukraine liefern wird.“ Er findet, dass „die Unterschiede zwischen SPD und Grünen in der Russland-Politik mittlerweile weniger substantiell als habituell“ sind.

Die SPD rückt, zögerlich und millimeterweise, von ihrem Lieblingsprojekt Nord Stream 2 ab. Die Grünen machen mehr Real- als Moralpolitik. Für die Ampel ist das nötig. Denn in der Krise kann sich die Bundesregierung eins nicht leisten: einen Konflikt zwischen Kanzler und Außenministerin und Doppelbotschaften nach Russland zu senden.

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