Streit um die Documenta 15: Antisemitismus oder Humanismus?

Das Künstlerkollektiv Ruangrupa kuratiert die Documenta. Die Kritik, es habe radikale Antizionisten eingeladen, ist nicht aus der Luft gegriffen.

Straßenbahn im Design der documenta fifteen

„documenta fifteen“ startet bald, die kuratorische Leitung sollte ihre Einladungspolitik überdenken Foto: Hartenfelser/imago

Die Antisemiten des 19. Jahrhunderts erscheinen von heute aus betrachtet wie Ehrenmänner alten Schlags. Sie machten aus ihrer Überzeugung keinen Hehl. Wenn sie fanden, dass die Juden unser Unglück seien, dann schrieben sie es so auf. Die Antisemiten von heute drücken sich vornehmer aus.

Aber wenn sie es nicht tun, wie der britische Dschihadist, der vier Juden in einer texanischen Synagoge als Geiseln nahm, um eine andere Dschihadistin, die in einem texanischen Gefängnis sitzt, freizupressen, finden sich sicher Leute wie jener Berichterstatter der BBC, der es fertig bringt, das Wort Antisemitismus nicht in den Mund zu nehmen.

Wichtiger war dem BBC-Mann, darauf hinzuweisen, dass der Geiselnehmer psychische Probleme hatte (als sei Dschihadismus an sich nicht schon Ausweis einer paranoiden Weltanschauung), und sodann die kritische Frage zu stellen, ob es nicht übertrieben ist, wenn ein Geiselnehmer, der ausdrücklich zum Märtyrer werden wollte, von der Polizei erschossen wird.

Dass Teile der britischen Gesellschaft und insbesondere ihre BBC ein Problem mit Juden haben, is nothing new, man muss ja nur Jeremy Corbyn zuhören oder eben BBC schauen. Das wird komischerweise auf der Insel nicht gern gehört. Vergangenheitsbewältigungs-weltmeister Deutschland dagegen reagiert weniger empfindlich auf Antisemitismusvorwürfe, die nicht zum Selbstbild passen. Hier hat man bloß keine Lust, sich mit an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen zu befassen.

Israelische Emanzipation vom jüdischen Staat

Die „Wortkeule“ Antisemitismus wird resolut vom Tisch gewischt. In einer deutschen Tageszeitung erfuhr der geneigte Leser in dieser Woche über die Vorwürfe gegen die künstlerische Leitung der kommenden Documenta, vorgetragen von einer Gruppe aus Kassel, die sich, warum auch immer, dem Kampf gegen den Antisemitismus verschrieben hat.

In einem anonym von dieser Gruppe verfassten Text, so las man, seien zahlreiche Hinweise auf Künstler und Mitarbeiter genannt worden, „die angeblich die Existenz Israels in Frage stellen sollen und sich antisemitisch geäußert hätten“. Angeblich? Wird hier etwa ein Dementi suggeriert, statt zu verifizieren oder gegebenenfalls zu falsifizieren, ob an der Sache was dran ist?

Wer sich die Mühe machte, ihr selber nachzugehen, konnte feststellen, dass der Verifizierung des Vorwurfs im Einzelfall nichts im Wege steht. Einer der Sprecher des Kollektivs „Question of Funding“, das zur Documenta eingeladen wurde, erklärt etwa in einem im Netz nachzulesenden Text, die BDS-Bewegung sei nicht radikal genug: Wenn die Forderungen von BDS erfüllt wären, bliebe der für „Gräueltaten“ verantwortliche „Apparat“ doch unangetastet, meint der Mann.

Weswegen er sich fragt, ob man nicht besser gleich den zionistischen Staat zerstören sollte? Dieser postkolonial inspirierte Kulturschaffende, der bald in der Kunstmetropole Kassel tätig sein wird, schlägt netterweise vor, man solle den jüdischen Bürgern Israels doch dabei helfen, sich von ihrem Staat zu „emanzipieren“. Ist das noch Antizionismus von der antisemitischen Art oder schon Humanismus?

Schnell ist eine Expertin gefunden, die uns im öffentlich-rechtlichen Rundfunk erklärt, wer mit dem „globalen Süden“ ins Gespräch kommen wolle, müsse halt akzeptieren, dass man dort „kritischer“ gegenüber Israel sei. Ach so: Es gibt gar keinen Unterschied zwischen Kritik an israelischer Politik und der Agenda, den jüdischen Staat zu zerstören? Und jede Person aus dem „globalen Süden“ ist qua Herkunft Antizionistin? Auch irgendwie typisch deutsch, solche blöden Fragen: Hauptsache, wir sind weltoffen.

Provinzler sind wir nicht. So feierte man sich in dieser Woche auch, dass das Fernsehen eine Dokumentation über die Wannseekonferenz gesendet hat. Korrespondiert das Schwinden der Solidarität mit Juden, die heute in ihrem eigenen Staat leben wollen, etwa mit der stets steigerungsfähigen nachträglichen Erschütterung über die „Endlösung der Judenfrage“? Schwer vorstellbar, in einem so selbstkritischen Land wie diesem.

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Kulturredakteur der taz. Hat Geschichte und Publizistik studiert. Aktuelles Buch: "'Wir sind die Türken von morgen'. Neue Welle, neues Deutschland". (Tropen/Klett-Cotta 2023).

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