Shoah-Überlebender Stern wird 100: Ein good guy

„Ritchie Boy“, Shoa-Überlebender und Exilforscher: Guy Stern feiert seinen 100. Geburtstag. Seine Memoiren gibt es nun auch auf Deutsch.

Guy Stern

Wird am 14. Januar 100 Jahre alt: Guy Stern (hier eine Aufnahme von 2016) Foto: picture alliance/dpa

Nur wenige Fotos zeigen Guy Stern nicht mit strahlendem Lächeln. Es ist sein stets freundlicher Gesichtsausdruck, der diesen bis ins hohe Alter agilen und neugierigen Mann ausmacht, dem man sein Interesse an Austausch, Gespräch und Vermittlung ansieht.

Guy Stern: „Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys“. Aufbau Verlag, Berlin 2022, 304 Seiten, 23 Euro

Frederik A. Lubich, Marlen Eckl (Hrsg.): „Von der Exilerfahrung zur Exilforschung. Zum Jahr­hundertleben eines trans­atlantischen Brückenbauers. Festschrift zu Ehren von Guy Stern“. Königshausen & Neumann, Würzburg 2022, 738 Seiten, 48 Euro

Als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie 1922 in Hildesheim geboren, verbrachte Günther Stern eine unbeschwerte Kindheit und Schulzeit in Niedersachsen. Auch wenn die Erinnerungen an die frühe Lebensphase von „Mörtel … aus Vermutungen, Notbehelfen und Schlussfolgerungen“ zusammengehalten werden, treten die geliebten sonntäglichen Ausflüge der Familie und die regelmäßigen Theaterbesuche mit den Eltern hervor. „Ein beinahe idyllischer Anfang“, so Stern, der jäh endete.

Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten im Januar 1933 war für Günther Stern jenes Ereignis, das für ihn „das Ende der Welt verhieß, in der wir gelebt hatten“. Der Ausschluss von Juden aus der deutschen Zivilgesellschaft traf auch den Zwölfjährigen, der nicht mehr Mitglied im geliebten Turnverein sein durfte. Zugehörigkeit und Halt fand er für kurze Zeit im Schwarzen Fähnlein, einer jüdischen Jugendgruppe, bis auch sie verboten wurde.

Brutale Attacke

Die Rechtlosigkeit von Juden im Nazideutschland wurde der Familie vor Augen geführt, als der Vater brutal geschlagen wurde, die Attacke jedoch folgenlos blieb. Sterns Eltern entschlossen sich, ihr ältestes Kind aus Deutschland fortzuschicken, in der Hoffnung, dass es ihm gelänge, die Familie zu retten. Dank eines Onkels in den USA, der für ihn bürgte, sowie des hilfsbereiten US-Konsuls in Hamburg gelang Günther Stern als Einzigem seiner fünfköpfigen Familie die Flucht in die USA.

Der Abschied von seiner Familie im November 1937 war für immer. Sterns Eltern und jüngere Geschwister wurden im März 1942 deportiert und ermordet. Seine Schulausbildung komplettierte Günther Stern an der Soldan High School in St. Louis, die für ihn den ersten Schritt seiner US-Sozialisation darstellte; ebenso wie seine Arbeit als (Abräum-)Kellner, die ihm nicht nur ein finanzielles Zubrot, sondern eine spezielle Berufserfahrung lieferte.

Ein begonnenes Studium unterbrach die freiwillige Meldung zum Militärdienst. Im „Camp Ritchie“, Maryland, zählte er zu den deutschsprachigen, zumeist jüdischen Emigranten (wie Werner Angress, Ernst Cramer, Hans Habe, Stefan Heym, Georg Kreisler), die für militärische Aufklärungsarbeit eingesetzt wurden.

Wenige Tage nach der Landung der Alliierten in der Normandie beteiligte er sich als einer der „Ritchie Boys“ am Kampf gegen die Nationalsozialisten und wurde Spezialist für Verhöre deutscher Kriegsgefangener. Aus Günther war mittlerweile Guy und seit 1. Mai 1943 ein US-Staatsbürger geworden.

Die Familie getötet

Erst nach der Befreiung Deutschlands erfuhr der 23-Jährige in Hildesheim von der „Umsiedlung“ seiner Angehörigen und deren gewaltsamem Tod. Nach der Rückkehr in die USA begann er das Studium, zuerst Romanistik, dann Germanistik, eine bewusste Form der Selbstbehauptung und zugleich Heimatverbundenheit.

Nach Lehrtätigkeiten an verschiedenen US-Hochschulen erhielt Guy Stern 1981 die Berufung als ­distinguished professor für deutsche Literatur- und Kulturgeschichte an der Wayne State University in Detroit: eine Stellung, die er bis 2003 innehatte. Besonderes Augenmerk gilt der Exilliteratur.

Den Vertriebenen aus den deutschsprachigen Heimatländern, den Dichtern im Exil, widmete er unzählige Aufsätze und Reden. Es kann nicht verwundern, dass Guy Stern für sein Lebenswerk im März 2017 der Ovid-Preis des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland verliehen wurde.

Unermüdlich engagiert

Das Spektrum seiner unermüdlichen Aktivitäten ist bewundernswert. Neben Gastprofessuren an Universitäten in Freiburg, Frankfurt, Leipzig, Potsdam und München zählte er zu den Gründungsmitgliedern der Society for Exile ­Studies sowie der Lessing Society. Er bekleidete unterschiedliche Ämter in der Kurt Weill Foundation for Music, arbeitete im Kuratorium des Leo Baeck Institute; seit 2003 engagiert er sich im Holocaust Memorial Center in ­Detroit, um insbesondere an „das Heldentum und den Al­tru­is­mus von Juden zu erinnern, die anderen Juden halfen“.

Auch hier ein unmittelbarer biografischer Bezug: Erst 2011 erfuhr Guy Stern, dass er zu den mehr als 1.000 Kindern und Jugendlichen zählte, die dank der selbstlosen Arbeit der German Jewish Children’s Aid vor nationalsozialistischer Verfolgung in die USA gerettet werden konnten.

Guy Sterns Wirkungskreis beschränkt sich nicht allein auf die akademische Welt. In öffentlichen Reden – so 1988 anlässlich der Eröffnung des Mahnmals für die zerstörte Hildesheimer Synagoge, zehn Jahre später im Deutschen Bundestag anlässlich des 60. Jahrestags des Novemberpogroms – betonte er die Pflicht zur Erinnerung.

Für seine Tätigkeit als Lehrender sowie für sein gesellschaftspolitisches Engagement wurde er vielfach ausgezeichnet, für ihn ganz besonders war gewiss die Verleihung des Ehrenbürgerrechts seiner Geburtsstadt Hildesheim am 8. Mai 2012.

Nachfahre der Aufklärung

Die Originalausgabe von Sterns Memoiren erschien 2020 in den USA unter dem Titel „Invisible Ink“: ein Zitat seines sich sorgenden Vaters, der seine Kinder angesichts der bedrohlichen Situation während des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ermahnte, sie müssten wie „unsichtbare Tinte“ sein. Dass Guy Stern mit seinem Lebenswerk das Gegenteil erreichte, führen die von seiner Frau Susanna Piontek übersetzten Erinnerungen lebhaft vor Augen.

Stern, der sich selbst als „Nachfahren des Zeitalters der Aufklärung“ sieht, fragt auch nach den Motiven für sein Arbeitspensum und verweist auf „das Überlebensschuld-Syndrom“: „Wer eine Katastrophe überlebt, verspürt das Bedürfnis, seine weitere Existenz zu rechtfertigen.“ Jenseits der persönlichen Erinnerungen bietet die von Frederick A. Lubich und Marlen Eckl herausgegebene Festschrift Begegnungen mit diesem inspirierenden wie humorvollen Workaholic.

Freunde, Kollegen, Weggefährten haben sich auf eine Spurensuche begeben, spannen den Bogen von Sterns Exilerfahrung zu der von ihm geprägten Exilforschung, seinem Herzensanliegen. Julius H. Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums Potsdam, bleibt es vorbehalten, in die Zukunft zu schauen: 2024 soll in Hildesheim ein Studentenwohnheim den Namen Guy- Stern-Haus erhalten. Die nun erschienene Festschrift ehrt einen Zeitzeugen, der schon zu Lebzeiten ein good guy ist.

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