Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping: „Schwierigkeiten schrecken mich nicht“

Katja Kipping ist Berlins neue linke Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales. Sie will Handlungsspielräume der Landespolitik voll ausreizen.

Portrait von Katja Kipping, Berlins neuer Sozialsenatorin

Will von Spürhunden lernen: Berlins neue Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) Foto: Doro Zinn

taz: Frau Kipping, Sie sind raus aus dem Bundestag und rein in der Berliner Landespolitik. Wie geht es Ihnen?

Katja Kipping: Was mir den Start als Senatorin extrem erleichtert: Das Team von Elke Breitenbach hat eine super Arbeit gemacht über die Jahre. Ich muss hier nicht den Boden neu bearbeiten.

Können Sie sich hier ins gemachte Nest setzen?

Von Reinsetzen ist keine Rede. All die Dinge, die angeschoben worden sind, müssen ja nicht nur fortgeführt, sondern teilweise überhaupt erst mal durchgesetzt und verstetigt werden. Der Koalitionsvertrag ist voller Arbeitsaufträge für eine Stadt, die keinen zurücklässt und Vorreiterin für gute Arbeit ist.

Nach 16 Jahren Fordern in der Opposition können Sie jetzt endlich mal machen?

Wie immer im Leben ist es ja nicht so, dass alle anderen das machen, was man will, nur weil man eine Funktion hat. Aber klar, das ist das, was mich so gereizt hat an diesem neuen Kapitel in meinem Leben: Was sind jetzt die Instrumentarien, die man in Regierungsverantwortung nutzen kann? Ich kann hier natürlich auf Landesebene nicht all die Probleme abfedern, bei denen die Ampel im Bund versagt. Meine Aufgabe ist jetzt: wie ein Spürhund zu schauen, welche Instrumente es auf Landesebene gibt, um die wichtigen Themen voranzubringen.

Seit wann wussten Sie, dass Sie Senatorin in Berlin werden?

Als ich Mitte November angerufen wurde, waren die Koalitionsverhandlungen in Berlin schon sehr weit fortgeschritten. Ich hatte dann noch ein paar Tage Bedenkzeit, habe das für mich durchgespielt und mich dann frohen Herzens dafür entschieden. Auch in dem Wissen, dass das mein Arbeitspensum deutlich erhöhen wird. Als mein Name öffentlich wurde und ich ganz offen darüber mit Leuten reden konnte, habe ich gemerkt, wie groß meine Vorfreude auf die neue Aufgabe ist.

Und vielleicht auch die Erleichterung darüber, der Bundestagsfraktion zu entkommen?

(Lacht) Es liegt natürlich allein an der Attraktivität der neuen Aufgabe.

Die Bundesebene ist gerade nicht so attraktiv: Das Verhältnis zwischen Parteispitze und Fraktion ist mal wieder nicht so gut, man befindet sich nach dem Wahldebakel in einem Stadium der Lähmung.

Jahrgang 1978, ist seit Dezember 2021 Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Die gebürtige Dresdnerin saß davor ab 2005 für die Linke im Bundestag, von 2012 bis 2021 war sie gemeinsam mit Bernd Riexinger Bundesvorsitzende der Partei.

Es ist nicht mehr mein Zuständigkeitsbereich, den Zustand von Bundestagsfraktion und Partei zu kommentieren. Als Senatorin in Berlin warten jetzt andere Aufgaben auf mich.

Wären Sie eigentlich auch in die sächsische Landespolitik gegangen, um Regierungsverantwortung zu übernehmen? Oder ist Berlin schon 'ne andere Hausnummer?

Ich bin biografisch zwei Städten sehr verbunden: Dresden und Berlin. Das ist jetzt kein Muss für eine Politikerbiografie, aber für mich lag es immer nahe, dort, wo ich einen Bezug habe, auch politisch aktiv zu werden.

Nun sind Sie jedenfalls Sozialsenatorin in einer Stadt, in der je­de:r Fünfte von Armut bedroht ist, wo die Armut seit Jahren eher steigt als sinkt – trotz Rot-Rot-Grün. Wie Sie selbst sagten: Viele Sachen können Sie auf Landesebene gar nicht grundsätzlich verändern. Das ist dann doch eher Reparaturbetrieb, oder?

Ihre Beschreibung wird wirklich dem Charakter des Föderalismus nicht gerecht. Landespolitik und Bundespolitik sind zwei unterschiedliche Aktionsfelder: Eine Eiskunstläuferin bewerten wir auch nicht danach, wie viele Puks sie versenkt. Mich kann man daran messen, inwieweit ich in der Lage bin, die Handlungsspielräume der Landespolitik zu nutzen. Der Kampf um andere Mehrheiten auf Bundesebene muss unbedingt weitergehen, den werden andere Akteure jetzt führen.

Als Senatorin sind Sie für 49 Bereiche zuständig: von Arbeit bis Zuwanderung. Hatten Sie schon Zeit, sich einzuarbeiten?

Ich habe die paar Tage, bevor ich offiziell nominiert wurde, intensiv genutzt, um möglichst viel von dem zu lesen, was es an Broschüren und Evaluationsberichten gibt. An meinem zweiten Tag im Amt hat mir jeder Abteilungsleiter einen schönen Aktenordner zur Einarbeitung mitgebracht. Flankierend dazu habe ich gleich direkte Vor-Ort-Termine gemacht. Ich kann nur sagen, ich habe in meinem Leben schon in komplizierteren Lebenssituationen Verantwortung übernommen. Als ich Bundesvorsitzende wurde, hatte ich einen Stillrhythmus von sechs Stunden mit meiner Tochter. Ich würde sagen, das war deutlich schwieriger, als jetzt hier reinzukommen.

Es ist mit Arbeit, Integration und Soziales aber trotzdem eine Art Superressort, das Sie jetzt verantworten.

Das stimmt. Übrigens auch mit Superbeschäftigten.

Was wird das drängendste Vorhaben im Bereich Arbeit?

Das große Projekt, das da neben dem Einsatz für Tariftreue ansteht, ist die branchenspezifische Ausbildungsabgabe, die im Koalitionsvertrag steht. Es wird eine der großen Herausforderungen, die widerstreitenden Ak­teu­r:in­nen an einen Tisch zu bekommen. Wenn das gelänge, wäre Berlin bundesweit Vorreiterin und würde auch hier Maßstäbe setzen. Da werde ich alles dransetzen, denn die Situation in Berlin schreit danach.

Und was drängt in den Bereichen Soziales und Integration?

Da sind das erst einmal ganz akute Sachen, die uns durch die Jahreszeit und die Pandemiesituation aufgedrückt werden. Wir müssen sicherstellen, dass für Geflüchtete und für obdachlose Menschen genügend Unterkunftsplätze vorhanden sind – auch wenn immer mehr Quarantäne-Situationen dazukommen. Da bin ich gleich am Tag der Ernennung und Vereidigung aktiv geworden, habe mit Leuten Kontakt aufgenommen, bin mit dem Kältebus mitgefahren.

Mit wie viel Zuzug Geflüchteter rechnen Sie?

Im Jahr 2021 wurden insgesamt 8.500 Asylbegehrende nachhaltig in Berlin untergebracht. Es gibt Prognosen, dass wir im ersten Quartal des neuen Jahres ein Defizit von über 500 Unterbringungsplätzen für Geflüchtete haben werden. Um das aufzufangen, ist bereits vor Monaten eine Taskforce Aquise aktiv geworden. Wir werden etwa wieder Hostels und Jugendhotels anmieten, leer stehende Bürogebäude nutzen und haben Tempohomes reaktiviert. Das eigentliche Ziel ist natürlich, dass die Menschen Wohnungen in den Kiezen bekommen.

Welche Möglichkeiten haben Sie denn auf Landesebene, damit sich die Armutsquote zumindest nicht noch weiter erhöht?

Das sind vor allem die Kosten der Unterkunft für Grundsicherungsbeziehende, die ja per Landesverordnung geregelt werden. Da war Berlin immer schon Vorreiterin, was etwa die Entlastung Alleinerziehender, von Menschen mit Behinderung oder Senioren und Seniorinnen betrifft. Wir wollen auch wieder die Richtwerte erhöhen. Die Wohnung darf dann teurer sein als der festgelegte Regelsatz – solange die Miete immer noch günstiger ist als eine Unterbringung in der Wohnungslosenhilfe.

Wie groß werden Ihre haushaltspolitischen Spielräume sein? Sie sitzen am Tisch mit einer eher konservativen Regierenden Bürgermeisterin und mit sehr selbstbewussten Grünen.

Was mir die Entscheidung für diesen Job schon sehr erleichtert hat, sind die guten Instrumente, die gerade im Bereich Arbeit und Soziales im Koalitionsvertrag drinstehen, und das ist ja das, was die Koalitionspartner bindet. Was ich gerade als das viel größere Problem sehe, ist die vorläufige Haushaltsbewirtschaftung in der Übergangszeit. Für laufende Projekte ist das kein Problem. Aber für Projekte, die von der Pilotprojektphase in die Verstetigung gehen sollen, kann es plötzlich ein Finanzierungsloch von drei bis sechs Monaten geben.

Wie etwa Housing First, das Berliner Vorzeigeprojekt zur Überwindung von Obdachlosigkeit.

Genau. Das Projekt ist total unumstritten, alle wollen das, alle haben sich dazu bekannt. In Berlin beziehen sich sogar FDP und CDU im Landtagswahlprogramm positiv auf Housing First. Und trotzdem: Weil das jetzt der Übergang vom Pilotprojekt zur Verstetigung ist, wäre das Projekt bei einer lebensfremden Auslegung der vorläufigen Haushaltswirtschaft gefährdet. Aber wir sind da aktiv geworden, und es gab zum Glück keinen Gegenwind von den anderen im Senat.

Ein Berlin ohne unfreiwillige Obdachlosigkeit – das war so etwas wie das Herzensthema Ihrer Vorgängerin, Elke Breitenbach. Gilt das auch für Sie?

Mit den Maßnahmen, die im „Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“ drinstehen, setzt Berlin Maßstäbe im Umgang mit Wohnungslosen, und das ist mir auch eine totale Herzensangelegenheit. Es wird ja jetzt immer gefragt, was machen Sie anders als Ihre Vorgängerin? Aber was mir diesen Wechsel nach Berlin so leicht gemacht hat, ist doch gerade die politische Nähe zwischen Elke Breitenbach und mir. Außerdem bleibt auch ein Teil ihres Teams hier. Allen voran Staatssekretär Alexander Fischer, der den Masterplan mitentworfen hat. Ich werde mich daran messen lassen, dass ich mich mit aller Kraft dafür einsetze, diese Instrumente umzusetzen.

Da steht Ihnen noch einiges bevor: Wenn Housing First zum Grundprinzip werden soll, dann braucht es deutlich mehr als die 80 Wohnungen im Modellprojekt. Im Masterplan ist dafür unter anderem eine 10-Prozent-Quote vorgesehen, die bei Neuvermietungen der landeseigenen Wohnungsgesellschaften an Wohnungslose gehen sollen. Im Koalitionsvertrag steht gerade diese Quote aber nicht drin. Und das Ressort Wohnen hat die Linke an die SPD verloren. Wie wollen Sie das durchsetzen?

Schwierigkeiten schrecken mich nicht. Bei der Führung einer Partei hatte ich auch einige dicke Bretter zu bohren. Das ist eine Frage von Verhandlungen, und ich habe mir ganz bewusst auch die ehemalige Staatssekretärin für Wohnen mit ins Team geholt.

Also ist Ihr Ziel die Aushandlung einer festen Quote?

Erst mal ist mein Ziel, alles, was im Koalitionsvertrag drinsteht, durchzusetzen. Und danach sind mein Team und ich wild entschlossen zu schauen, welche Instrumente gibt es noch und welche kriegen wir durch.

Glauben Sie, Sie werden eher mit oder gegen die SPD arbeiten?

Am Ende des Tages weiß die SPD auch, dass ein Großteil ihrer Wählerinnen und Wähler ein klares Zeichen gesetzt hat mit dem Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“. Das ist nicht nur ein Thema fürs Parteien-Klein-Klein, sondern Ausdruck des gesamtgesellschaftlichen Wissenstandes: Wie verhindern wir, dass die Stadt die Beute einiger weniger großer Immobilienkonzerne wird und dadurch Menschen verdrängt werden?

Wie sehr wird die Linkspartei auf der Umsetzung des Volksentscheids beharren?

Ich habe ja Erfahrung damit, wie man ein Thema so stark macht, dass es am Ende auch ein Verfassungsgericht überzeugt. Das braucht Beharrlichkeit. Als ich damals die Kritik der Hartz-IV-Sanktionen angesprochen habe, musste ich erst einmal meine Fraktion davon überzeugen. Dann haben wir mit vielen, vielen Akteuren, Sozialverbänden, Gewerkschaften kritische Expertise gesammelt, weitere Fakten herangeholt, kritische juristische Meinungen befördert und verbreitet und so weiter. Und am Ende des Tages gab es eine breite Phalanx aller fachlichen Akteure vor dem Bundesverfassungsgericht.

Und darum geht es auch jetzt bei der Enteignung?

Es gibt bei diesem Thema nicht nur schwarz und weiß: absoluter Verrat oder sofortige Umsetzung. Unsere Aufgabe als Linke in der Landesregierung ist es, das Thema am Kochen zu halten, um eine möglichst gerichtsfeste Lösung zu finden. Es geht letztlich auch darum, hier Rechtsgeschichte zu schreiben.

Ihre Vorgängerin, Elke Breitenbach, kam aus der Praxis, hat gerade in der Obdachlosenarbeit einen Politikstil von unten geprägt, Ak­teu­r:in­nen und Betroffene, aber auch die Stadtgesellschaft an den Tisch geholt. Sie sind Ihr ganzes Arbeitsleben schon Berufspolitikerin. Was haben wir von Ihnen zu erwarten?

Was die Arbeitsweise betrifft: nicht paternalistisch über, sondern mit Menschen zu reden. Das haben Elke und ich gemeinsam. Ich habe auch in meiner Arbeit auf Bundesebene immer zusammen mit den Armutsbetroffenen Projekte entwickelt.

Seit Corona kann man mit Ihnen jeden letzten Freitag im Monat einen digitalen Kaffee trinken. Wird es das auch weiter geben?

„Kaffee mit Katja“ gab es schon am 31. Dezember wieder. Die Uhrzeit wird nicht mehr so fix sein, aber ja, ich will das beibehalten.

Wird das eine Art Bürger:innen-Sprechstunde?

Das mache ich auf meinen privaten Kanälen, wo ich also nicht offiziell als Senatorin Sachen verkünde. Aber es wird bestimmt auch Fragen zu Berlin geben.

Eine letzte Frage muss noch sein.

Da bin ich gespannt.

Wann haben Sie das letzte Mal einen in die Pratze geschlagen?

(Lacht) Das letzte Mal war ich Mitte Dezember beim Kickboxen im Frauenverein. Leider sind die Trainingszeiten nicht so richtig mit meinem Terminkalender als Senatorin vereinbar. Aber ich achte darauf, dass ich jede Woche genug Sport mache. Dafür stehe ich auch mal eine Stunde früher auf.

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