berliner szenen
: Frisch betäubt und gut gekühlt

Wie oft habe ich alle wichtigen Termine in die Ferien geschoben, da ich im Alltag keine Zeit finde. Daher sitze ich am 27. Dezember in einer Zahnklinik am Ku’damm, starre die Stuckdecke an und erinnere mich an meinen letzten Termin hier. Das war ein paar Tage vor dem ersten Lockdown. Und der Zahnarzt seltsam unbekümmert: „Das geht so schnell wieder weg wie die Schweinegrippe und ist ja auch nur für alte Menschen gefährlich.“ Kurz überlege ich, ihn auf seine damalige Einschätzung anzusprechen. Dann verwerfe ich den Gedanken wieder.

Beim Verlassen der Praxis reicht mir der Zahnarzt ein Kühlpad und meint: „Beim nächsten Besuch ist die Pandemie hoffentlich längst endemisch.“ Ich presse das Kühlpad schnell auf die Wange und bemühe mich um ein Lächeln.

In der U-Bahn fühle ich mich beschwingt. Letzter Punkt auf der To-do-Liste für 2021 erledigt: check. Ich beobachte die Menschen mit Einkaufstüten in meinem Waggon, denke: „Die waren sicher unliebsame Geschenke umtauschen“, und wundere mich, dass ich zurückgemustert werde. Aber egal. Sollen sie mich eben unverhohlen anstarren. Ich nehme mir ja auch das Recht, fremde Menschen zu studieren.

Beim Aussteigen am U-Bahnhof Kurfürstendamm komme ich in eine Maskenkontrolle. Drei Polizisten diskutieren mit einer betrunkenen Frau über die Maskenpflicht. Ich empfinde ein noch nie da gewesenes Mitleid mit den Polizisten. Wie ätzend es sein muss, sich tagtäglich um die Durchsetzung der Coronaregeln kümmern zu müssen!

Auf der Straße angekommen greife ich mir routiniert ins Gesicht, um meine Maske zu lösen. Und stelle fest, dass ich sie – verwirrt von der Narkose und durch das Kühlpad auf der Wange – ganz vergessen hatte aufzusetzen.

Eva-Lena Lörzer