Strategien für die Schwächsten

Ethische Fragen jenseits der Impfpflicht: Am Wissenschaftskolleg zu Berlin wurde am Mittwoch soziologisch über die Pandemie diskutiert

Von Julia Hubernagel

Seit 2020 ist unser Alltag von epidemiologischen Entwicklungen überschattet. Vi­ro­lo­g:in­nen spielen eine so große Rolle, dass zwischenzeitlich Vor- und Nachteile einer Technokratie ernsthaft verhandelt wurden. Bei allem Diskutieren über Inzidenzen ist der soziale Kontext, der Rückkopplungseffekt von Krisen auf Einzelpersonen, vor allem zu Anfang der Pandemie, nebensächlich geworden. Dabei tun sich hier ethische Fragen auf, die weiter reichen als Ja oder Nein zur Impfpflicht: „Wie viel ist uns ein Leben wert?“, warf die Soziologin Sanyu A. ­Mojola, die mit der Biologin Jessica ­Metcalf am Mittwoch im Abendkolloquium des Wissenschaftskollegs zu Berlin diskutierte, als zentrale Frage auf.

Es ist eine irrige Annahme, vor dem Virus seien alle gleich. Den Eindruck hätte man haben können, sagt Mojola, als sich die ersten Prominenten mit Covid-19 infizierten. Doch anhand von Daten aus New York zeigt die Expertin, dass sich unter den Toten überproportional viele Schwarze und Latinos befinden und dass der höchste Risikofaktor ein geringes Einkommen darstellt: Ganz oben auf der Liste steht der New Yorker Stadtbezirk Bronx. Hotspots seien Haushalte, sagt Mojola, man stecke sich dort an, wo man sich sicher fühle, im Familienkreis. Sie zieht einen Vergleich zum Ebolavirus; Ebola sei eine Krankheit der Intimität. Wer sich um die Versorgung von Kranken oder um Leichentransporte kümmere, erkranke oft selbst. Das sei auch das Tragische an Aids, meint sie. „Man bekommt es von demjenigen, den man liebt.“

Warum das krisengebeutelte Afrika die Coronapandemie vergleichsweise besser überstanden habe als Europa, will ein Zuhörer im Plenum wissen. Jessica Metcalf schaut skeptisch. „Ist das wirklich so?“, fragt sie zurück. Die Biologin, die am Mittwoch Modelle zur Bestimmung von Infektionsraten vorstellte, bemängelt die schlechte Datenlage. In manchen Ländern würden nur etwa 10 Prozent der tatsächlichen Todesfälle übermittelt. Und tatsächlich vermag man den verhältnismäßig moderaten Coronazahlen kaum glauben, wenn man die Versorgungslage genauer betrachtet. So steht etwa in Eritrea für 6 Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen kein einziges Beatmungsgerät zur Verfügung, zeigt Mojola anhand einer Tabelle.

Vieles scheint überhaupt noch unklar zu sein. 2020 ist die Lebenserwartung in Russland und den USA um zwei Jahre gesunken. In Neuseeland und Taiwan ist sie indes um fast ein Jahr gestiegen. Gründe dafür liefert Mojola keine. Dafür wartet sie mit einer Reihe weiterer Statistiken auf: In Frankreich, das einen harten Lockdown verhängte, sind die Fälle häuslicher Gewalt um 30 Prozent gestiegen. In Schweden litt ein ­Drittel der Bevölkerung unter Depressionen. In Uganda haben mancherorts Kinder zwei Jahre keine Schule besucht. In Kenia stieg die Zahl an Schwangerschaften unter Schülerinnen stark an, was das Ende ihrer schulischen Laufbahn bedeutet. Für Frauenrechte insgesamt war die Coronapandemie mit all ihrer zusätzlichen Care-Arbeit eine dunkle Zeit.

Knallharter Utilitarismus

Tatsächliche neue Erkenntnisse liefern Mojola und Metcalf in ihren Vorträgen nicht, wollen das vielleicht auch gar nicht. Zwischen der Strategie, mit den Maßnahmen die Schwächsten einer Gesellschaft zu schützen, und knallhartem Utilitarismus verlaufen viele Wege, deren Beschreiten verschiedenste Auswirkungen zur Folge hat. Wie viel und wie lange wir ­bereit sind, uns einzuschränken, um Leben zu retten, sei keine leichtzunehmende Frage, so der Tenor. „Epidemien haben die Angewohnheit, spontan zu verpuffen“, schreibt ­Philip Roth in seinem letzten Roman „Nemesis“ über eine fiktive Polioepidemie. Von einem Tag auf den anderen wird das jedoch kaum geschehen, die meisten verklingen langsam.

Gerade weil die Coronabeschränkungen nun schon seit über zwei Jahren unser Leben bestimmen, plädieren die Expertinnen, die beide in Princeton lehren, dafür, künftig Maßnahmen überlegter aufzuerlegen. Die Schulschließungen in den USA stellten ein riesiges datengenerierendes Experiment dar, sagt Metcalf. Seine Auswirkungen ließen sie und ihre Kol­le­g:in­nen jedoch an Grenzen stoßen, da das Ganze höchst unorganisiert erfolgte. „Man hätte viel lernen können, wenn man neue Regelungen stufenweise implementiert hätte“, meint sie. Oder wenn So­zio­lo­g:in­nen von Anfang an mit am Tisch gesessen hätten, ergänzt Mojola.

Warum Teile der Bevölkerung Masken und Impfungen ablehnten oder Social Distancing nicht funktioniere, sei soziologisch gut zu erklären. Die Medizin muss hier naturgemäß an Grenzen stoßen.