Stadtgespräch Julia Neumann aus Beirut
: Beiruts Fe­mi­nis­t*in­nen feiern die Festnahme eines Sexualstraftäters. Der war bekannt, durfte sogar im Fernsehen auftreten

Marwan Habib“, ruft eine Person in die kleine Menge vor der Polizeistation in Beirut. „Nimm das!“, rufen andere und recken den Mittelfinger in die Höhe. Das Video auf Instagram zeigt Fe­­mi­nis­t*innen, die in der libanesischen Hauptstadt die Inhaftierung eines Sexualstraftäters feiern. Dabei wurde der Täter gar nicht im Libanon geschnappt. Der Libanese Marwan Habib sitzt zurzeit im amerikanischen Florida in Haft, weil er im November eine Frau sexuell belästigt hat. Habib gestand der Polizei in Miami, sich in einem Hotel einen Zimmerschlüssel erschlichen zu haben. Dem Polizeibericht zufolge legte er sich ans Bett der Frau und zwang sich auf sie, als sie aus dem Schlaf erwachte. Der Täter wurde festgenommen und einer Richterin vorgeführt. Als Habib fragte, ob er nun auf Kaution gehen könne, antwortete diese: „Sie ­gehen heute nicht nach Hause, Sir.“

Tatsächlich hatte der 32-jährige Fitnesstrainer im Libanon schon seit Jahren Frauen und Mädchen belästigt und vergewaltigt. Als im November 2019 ein Foto von Habib als Teilnehmer einer Anti-Regierungs-Demonstration im Netz zirkulierte, meldeten sich rund fünfzig Frauen und Mädchen auf Instagram und teilten ihre traumatisierenden Erfahrungen. Den Geschichten zufolge lauerte Habib seinen Opfern oft in Hamra auf, einem Beiruter Stadtteil mit vielen Bars und Restaurants, in dem zwei amerikanische Universitäten liegen. Er näherte sich an, belästigte die Frauen verbal, physisch oder indem er sie in sozialen Medien verfolgte. Den Berichten zufolge bedrängte er eine Person nach dem Boxtraining in der Dusche, folgte einer anderen nach der Uni und versuchte, Frauen in seiner Nachbarschaft zu vergewaltigen.

Auf Instagram sah der Rechtsanwalt Karim Majbour einen Hinweis auf den Täter. Der 34-Jährige bot an, den Fall pro bono zu übernehmen, und war einverstanden, dass sein Kontakt gepostet wird. Über 100 Frauen und Mädchen meldeten sich bei Majbour. Doch statt belangt zu werden, kam der Täter erst mal ins Fernsehen. Auf dem libanesischen Sender MTV erhielt Habib mehr als zwanzig Minuten Sendezeit, um seine Taten abzustreiten und Präsident Michel Aoun um Hilfe zu bitten.

Nach der Sendung erstattete der Anwalt Anzeige. „Das System hat Marwans Fall nicht ernst genommen“, sagt er. Habib kam nicht zur Anhörung. Nach einer Reise in die Türkei wurde er von Sicherheitskräften zwar am Flughafen in Beirut verhaftet, doch kurz danach wieder freigelassen. Dem Anwalt und den Frauen wurde gesagt, sie sollten Marwan auf der Polizeistation identifizieren – unbeachtet der Traumata der Opfer. „Wir wurden mehr untersucht als er“, sagt Majbour. „Ich habe bestimmt zwanzig Stunden auf der Station verbracht. Er war drei Stunden dort.“ Aus seinen Unterlagen gehe klar hervor, dass dem Täter auf politischer Ebene zur Freiheit verholfen wurde.

Im Dezember 2020 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das sexuelle Belästigung unter Strafe stellt. Zuvor hatte es keine strafrechtliche Definition von sexueller Belästigung gegeben. Nun drohen Tätern bis zu vier Jahre Gefängnis und Geldstrafen in Höhe eines Vielfachen des monatlichen Mindestlohns. Doch im Fall Habib kam das Gesetz zu spät. Die Justiz ließ sich Zeit und der Täter reiste in die USA.

„Endlich“, posteten viele unter das Video von dem Protest vor der Polizeistation in Beirut. Unter ein Foto von Habib im orangefarbenen Gefangenen-Overall witzelte jemand: „Orange is the new Marwan Habib“ in Anlehnung an eine US-Knast-Serie.

Doch das Aufatmen könnte von kurzer Dauer sein: Habib hat nun eine sogenannte Einwanderungssperre in den USA. Damit wird er früher oder später ausgewiesen. Die Chance, dass er im Libanon umfassend zur Rechenschaft gezogen wird, ist gering. Nicht nur, weil er gute Verbindungen zur Partei von Präsident Aoun hegt, sondern auch aufgrund der sogenannten Vergewaltigungskultur: Majbour weiß von mehreren Vergewaltigungen, doch die Frauen wollten sich der Klage nicht anschließen. „Ich kann sie nicht zwingen“, sagt er. „Eine Frau sagte mir: ‚Karim, ich bin verheiratet. Es wird herauskommen, wenn ich Anzeige erstatte, dann wird mein Mann sich scheiden lassen.‘“ Ohne Zeuginnen und Beweise wird Habib nicht für alle Taten bestraft werden.