Und plötzlich wird Geld wichtig

ROLE MODEL Jessica war Topbankerin und Ernährerin ihrer Familie. Dann wurde ihr gekündigt. An einen neuen Job in ihrer Gehaltsklasse ist nicht zu denken. Jetzt arbeitet sie an einem Millionendeal. Und wenn der nicht klappt? Dann wird sie mal versuchen zu leben

VON JUDITH LUIG

„Die Deutschen sind sexuell total verklemmt“, schreit es mir entgegen, als ich gerade zur Tür reinkomme. Es ist September 2007, eine Geburtstagsparty, und der ermunternde Satz kommt von Jessica: Eine Mischung aus den Pussycat Dolls und Scarlett Johansson in einem Woody-Allen-Film. Sie startet mit Vollgas in den Abend und ist schon um elf überhaupt nicht mehr zu halten. Halb auf einem zunehmend blasser werdenden Typen hängend, ihr Sektglas im Balanceakt auf seinem Knie, sorgt sie dafür, dass zumindest der Mann unter ihr diesem Stereotyp entkommt.

Zwei Jahre später treffe ich sie wieder: Dasselbe Geburtstagskind, aber ein komplett anderer Gast. Jessica trägt hochgeschlossen und ist gerade dabei, der Gastgeberin mit den Häppchen zu helfen. Ihre Stimme hat immer noch dieses Heiser-Röhrende, aber sie trinkt nur ein einziges Bier. Als sie einen Sekt angeboten bekommt, lacht sie und sagt: „Nein, ihr könnt unmöglich wollen, dass ich mehr trinke.“

Jessica arbeitet im Finanzsektor. Die Vermutung läge nahe, die beiden Tableaus als „Jessica im Spekulationsrausch“ und „Jessica in der Krise“ zu betiteln. Aber die Welt ist keine Baptistenpredigt. Das, was wie der Rausch aussah, war bereits die Krise. Die jetzige Krise ist die Ernüchterung.

Die Explosion

Die Pleite der Lehman Brothers ist der 11. September für den Finanzsektor: Etwas, das sich lange anstaute, ist in die Luft geflogen. Ich treffe Jessica in einem Café. Ihr Hang zum Extremen ist geblieben, aber sie ist deutlich kontrollierter. Sie ist jetzt sehr auf ihren Ruf bedacht, ihren Namen will sie auf keinen Fall in der Zeitung stehen haben.

„Oh je, dieser Abend“, sagt sie, „da war mein Leben gerade ein riesiges Drama.“ Im September 2007 hatte für Jessica die Krise bereits begonnen. „Es gab gerade die erste Kündigungsrunde, mir war klar, dass ich bei der nächsten dabei sein würde“, erzählt sie. Von der Welt da draußen aber hatte sie in den letzten zehn Jahren vor lauter Arbeit wie die meisten ihrer Kollegen wenig mitbekommen. Der Job erfordert eben 24/7 Einsatz.

Die Atmosphäre in der Branche – ohnehin ständig aufgeladen – wurde unerträglich. Besonders für Frauen. sagt Jessica. „Ich bin forsch und feminin. Das kommt bei den Kollegen nicht so gut an.“ In der Finanzwelt regierten immer noch sehr konservative Geschlechtervorstellungen. „Wenn du als Frau zu viel lächelst, dann wirst du direkt als sexuelles Wesen eingeordnet. Wenn du den Typen dann aber nicht das Gefühl gibst, dass sie dich haben könnten, dann fangen sie an, dich zu bekämpfen.“ Es mögen Klischees sein, aber sie sind Teil ihrer Welt. Sie benennt sie ohne große Aufregung, so als wäre es ein Fakt, den man eben hinnehmen müsste. „Manche Frauen können dieses Spiel zu ihren Gunsten nutzen, aber mir liegt das einfach nicht.“

Jessica ist das, was die Branche als top-notch bezeichnet. Sie hat Mathe studiert, mit 24 bei ihrer ersten Bank angefangen und seitdem im Prinzip Tag und Nacht gearbeitet – in den USA, in Großbritannien, in Deutschland. Jetzt ist sie 34 Jahre alt. Sie hat ihren Eltern ein Haus in Frankfurt gebaut, sie hat für sich und ihren Freund eine Wohnung im Westend mit Antiquitäten ausstaffiert, sie hat ihrer Freundin einen Friseursalon aufgebaut und etlichen Leuten Geld geliehen. Man könnte sagen, Jessica ist die Ernährerin in einem etwas unkonventionellen Familienmodell.

Bei der nächste Kündigungsrunde in Jessicas Bank traf es sie. Sie hatte sich so lange davor gefürchtet, dass der erste Schreck gar nicht so dramatisch war. Schlimm wurde es erst hinterher. Zum Beispiel, als man ihr den vertraglich vereinbarten Bonus von 600.000 Euro nicht auszahlen wollte. Jetzt, wo sie langsam merkte, was Geld wert ist. „Aber wenn ich meinen alten Arbeitgeber verklage, dann ruiniere ich meinen Ruf in der Branche“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Schon Männer könnten sich eigentlich den juristischen Weg nicht leisten, aber als Frau bedeute es das komplette Aus für die Karriere. „Klagen bringt nur was, wenn man schwanger ist.“

Kein Geld mehr zu verdienen, hat ihr nicht viel ausgemacht, sagt Jessica. Sie kommt ohnehin nicht aus großen Verhältnissen. „Als Kind war ich immer die Ärmste.“ Die wirkliche Krise löste ihr privates Umfeld aus: „In dem Moment, wo ich sie am meisten gebraucht hätte, haben viele Freunde gesagt: ‚Oh Gott, hast du jetzt gar kein Geld mehr?‘ “ Ihre Eltern haben ihr angeboten, dass sie aus dem Haus ausziehen, das Jessica für sie gekauft hat. Aber das hat nur noch mehr Druck auf sie ausgeübt: „Wenn die woanders Miete zahlen müssen, wie sollen sie dann durchkommen?“ Ihr Freund wird arbeitslos. Dann kündigt auch noch der Bruder seinen Job und wird jetzt von der Schwester subventioniert. Jessica hat dafür Verständnis: „In Deutschland können sie dich nicht einfach vor die Tür setzen, also praktiziert man hier diese langsam sich hinziehende Rausekeltaktik.“

Jessica brauchte ein neues Einkommen: An eine Neuanstellung in ihrer Gehaltsklasse – 150.000 plus – aber war nicht zu denken, und für die Jobs um die 50.000 Jahresgehalt kommen Leute wie Jessica einfach nicht infrage. So ist der Markt. Jessica hat also Nachhilfe angeboten, sich an Marktforschungsaktionen beteiligt, bei denen man pro Einsatz zwischen 50 und 100 Euro verdient, sie hat zwei Start-ups gegründet und versucht, sich als freiberufliche Unternehmensberaterin durchzuschlagen. Aber irgendwie nahm das alles keine Fahrt auf.

Viele Leute haben durch die Krise gemerkt, dass ihnen Geld letztendlich gar nicht so wichtig ist. Jessica hat das Gegenteil gelernt. „Bevor der Markt einbrach war ich total naiv, ich dachte, Geld sei einfach kein großes Thema.“ Erst durch die Krise hat sie gemerkt, was für eine große Rolle Geld in ihrem Leben spielt. Nicht für sie selbst, sondern für die um sie herum. „Ich war immer die Starke, auch finanziell.“ Ihre Familie und Freunde hatten sich daran gewöhnt, dass man sich in jeder Hinsicht auf Jessica verlassen konnte. Als der Job wegfiel und Jessica zusammenbrach, konnten die anderen damit nicht umgehen. „Ich habe gemerkt, dass ich mich auf niemanden verlassen kann“, sagt Jessica. Sie sagt das nüchtern, ohne Bitterkeit. So als wäre es das Ergebnis einer simplen Rechnung.

Mittlerweile arbeitet Jessica wieder in ihrer Stammbranche. Die Krise hat ihr die Chance gegeben, ohne große Konsequenzen für ihren Lebenslauf ein bisschen rumzuexperimentieren. „Im Moment herrscht ein neuer Pioniergeist auf dem Markt.“ Jessica baut jetzt den Versicherungssektor für ihren neuen Arbeitgeber auf. Noch in diesem Monat erwartet sie den großen Durchbruch, einen Deal, der ihr an die zwei Millionen Euro bringen könnte. Die wird sie auch brauchen, denn sie ist zwar nicht mehr arbeitslos, aber immer noch gehaltslos: Seit anderthalb Jahren bekommt sie keinen Lohn, noch nicht mal die Spesen werden ersetzt. „Das ist im Prinzip illegal“, räumt Jessica ein. Aber die Krise macht’s möglich.

Jessica hat ihre Wohnung untervermietet und ist wieder bei ihren Eltern eingezogen. Sie kauft ihre Strumpfhosen nicht mehr beim Airportshopping, wo man, wenn man sich geschickt anstellt, 50 Euro dafür loswird, sondern in der Discountdrogerie für 4,50. „Ich bin konservativ erzogen, ich habe viel gespart“, sagt sie. „Ich fahre jetzt nicht mehr in den Urlaub, und wenn man mal den täglichen Starbucks runterfährt, dann kommt man auf sehr interessante Beträge.“ Von ihren männlichen Kollegen haben die wenigsten ihren Lebensstil geändert, und die weiblichen machen sich auch mehr Sorgen, als sie Konsequenzen ziehen. „Diese Mädels, die ständig noch in die teuren Läden wollen, aber dann, wenn sie drin sind, den ganzen Abend jammern, wie viel da alles kostet.“

Das Ende des Versorgers

Überhaupt scheint die Krise einiges an Beziehungen im Finanzbereich verändert zu haben: „Hier gab es jede Menge Ehefrauen, die keine Verantwortung für ihr eigenes Leben übernahmen. Die sind jetzt weg, haben sich scheiden lassen, sobald ihr Mann nicht mehr Versorger war.“

Ein paar Monate kann Jessica noch von ihrem Ersparten leben. Aber wenn der Deal nicht kommt, dann wird es knapp. Dann muss sie sich Arbeit bei einer der großen Versicherungen suchen. Auch wenn das nicht unbedingt ihr Traum ist.

„Durch die Krise bin ich mehr ich selbst geworden“, sagt sie heute. „Ich weiß jetzt, was mir wichtig ist, und ich lasse mich nicht mehr durch andere verunsichern.“ Und wichtig ist ihr die Beziehung zu ihrem Freund, der selbst gerade nicht besonders liquide ist. Um ihn zu unterstützen, nimmt Jessica auch einen ungeliebten Job in Kauf. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, dass sie selbst den nicht bekommt. Und dann? „Dann“, sagt Jessica und überlegt ein bisschen, „dann muss ich mal versuchen zu leben. Ich weiß noch nicht, wie man das macht, aber das kriege ich auch noch hin.“