Ortskräfte in Afghanistan: Die Angst des Übersetzers

Seitdem Amir Azizi* für die Bundeswehr gearbeitet hat, wollen ihn die Taliban töten. Azizi bittet Deutschland um Schutz. Bislang vergeblich.

Ein bewaffneter Taliban sitzt an einem Checkpoint in Kabul

Machen Jagd auf „Verräter“: Ein Taliban-Kämpfer kontrolliert einen Checkpoint in Kabul Foto: Reuters

Die Taliban haben Amir Azizi* ordentlich beschieden, dass sie ihn töten wollen. Eines der Drohschreiben hat der 30-Jährige vor einem halben Jahr erhalten. Es ist auf den 1. Juli datiert, trägt den Briefkopf des Islamischen Emirats, ist dreifach gestempelt und unterschrieben. „Unseren Informationen zufolge haben Sie als Übersetzer für die PRT-Einheit der deutschen Streitkräfte gearbeitet“, schreiben die Islamisten. „Sie sind ein ungläubiger Verräter. Die Militärkommission des Emirats wurde daher angewiesen, Sie zu töten, wo auch immer in Afghanistan Sie sich aufhalten.“

Es ist über zehn Jahre her, dass Azizi ein paar Wochen lang im Norden Afghanistans für die Bundeswehr übersetzt hat. Die Taliban haben es aber bis heute nicht vergessen und verziehen, das belegen auch weitere Dokumente, die er der taz vorgelegt hat. Als er den Drohbrief im Juli erhielt, hatten die Islamisten immerhin noch nicht das ganze Land unter ihrer Kontrolle. Azizi floh nach Kabul und fühlte sich dort halbwegs sicher.

Seitdem im August auch die Hauptstadt gefallen ist, traut er sich aber kaum mehr auf die Straße, aus Angst, dort in einen Checkpoint der Taliban zu geraten. Mit seiner schwangeren Frau und den vier Kindern sitzt er in einer Wohnung und wartet. „Ich habe gehört, dass Deutschland eine neue Regierung hat“, sagt er in einem Telefonat einen Tag vor Heiligabend. „Ich hoffe, dass sie uns helfen wird.“

Ob seine Hoffnung berechtigt ist? Zwei Stunden nach Azizis Telefonat mit der taz tritt im Auswärtigen Amt in Berlin die Ministerin Annalena Baer­bock vor die Kameras. „Als neue Bundesregierung sind wir entschlossen, jetzt nicht wegzuschauen, sondern zu handeln, und zwar schnell“, sagt sie und kündigt einen Aktionsplan an.

Je mehr Zeit vergangen, desto schlechtere Chancen

Baerbock zufolge hat die Bundesrepublik seit August rund 10.000 Menschen die Flucht nach Deutschland ermöglicht. Die meisten davon sind wie Azizi ehemalige Mit­ar­bei­te­r*in­nen deutscher Stellen und deren Angehörige. Rund 15.000 weitere Personen haben eine Aufnahmezusage, stecken aber in Afghanistan oder den Nachbarländern fest. Ihnen will Baerbock jetzt helfen. Sie will neue Evakuierungswege schaffen und die Regeln für den Familiennachzug lockern.

Keine guten Nachrichten verkündet die Grünen-Politikerin dagegen für ehemalige Ortskräfte, denen die Bundesrepublik die Aufnahme bisher nicht zugesagt hat. Um wie viele Menschen es dabei geht, ist unklar. Die Bundesregierung verrät nicht, wie viele Anträge sie seit dem Sommer abgelehnt oder noch nicht bearbeitet hat. Es könnten aber Zehntausende sein.

Der Fall von Azizi ist somit einer von vielen. Und doch ist er besonders: Seinen Gefährdungsanzeigen konnte der 30-Jährige Drohschreiben, Polizeiberichte und sogar Fotos eines Anschlags beifügen. Dass ihn die Arbeit für die Bundeswehr in Todesgefahr gebracht hat, kann er konkret nachweisen. Trotzdem wurden seine Hilfsersuchen immer wieder abgelehnt – das erste schon vor Jahren, das letzte vor vier Wochen.

Allgemein gilt: Je länger die Tätigkeit für deutsche Stellen zurückliegt, desto schlechter sind die Chancen auf eine Aufnahmezusage. Endete das Arbeitsverhältnis vor 2013, so wie bei Azizi, ist Hilfe sogar kategorisch ausgeschlossen. Die neue Bundesregierung hält es damit bislang genauso wie die alte.

Mehr als hundert tote Ex-Regierungsmitarbeiter

Azizi war 18 Jahre alt und hatte in seinem Heimatdorf in der Provinz Kundus gerade die Schule abgeschlossen, als ihn die Bundeswehr 2010 als Übersetzer anstellte. Am Telefon erzählt er, dass er mit dem Job sein Literaturstudium finanzieren und seinem Land helfen wollte. Er war einem Provincial Reconstruction Team zugeordnet, einer Einheit also, die den Wiederaufbau unterstützen und militärisch schützen sollte. Die Soldaten, so Azizi, hätten ihn als Dolmetscher herangezogen, wenn sie gefangene Taliban verhörten. So seien die Islamisten auf ihn aufmerksam geworden.

Erste Drohungen ignorierte er damals noch. Aber als die Briefe und Anrufe – durch Polizeiberichte sind sie belegt – nicht aufhörten, floh er aus seinem Heimatdorf in die nächste Kleinstadt. Azizi sagt, er habe seinem Vorgesetzten von den Drohungen erzählt. Die Bundeswehr habe ihm daraufhin nach nur zehn Wochen Tätigkeit gekündigt.

Für die Taliban ist die Sache damit nicht erledigt. Azizi jobbt in einem Copyshop, beendet sein Studium, lebt und arbeitet schließlich in Kundus als Deutschlehrer. Die ganze Zeit über gehen die Drohungen weiter. Im Januar 2019 wagt er es ausnahmsweise, die Stadt zu verlassen und seine Mutter auf dem Land zu besuchen. Auf dem Rückweg lauern ihm drei Männer auf und nehmen sein Auto unter Beschuss, Fotos zeigen den roten Mazda mit durchlöcherten Scheiben. Azizi überlebt das Attentat, zu dem sich später die Taliban bekennen.

Die Taliban versprachen öffentlich eine Generalamnestie, als die letzten westlichen Truppen aus dem Land abzogen und auch Kabul an die Islamisten fiel. Nach UN-Angaben wurden allerdings zwischen August und November landesweit mehr als hundert ehemalige Sicherheitskräfte und Mit­ar­bei­te­r*in­nen der gestürzten Regierung getötet.

Es zählt nur der Stichtag

Azizi sagt, dass Anfang November Taliban-Kämpfer vor dem Haus seiner Mutter in der Provinz Kundus standen. Sie überreichten ihr ein Schreiben mit Stempel und Unterschrift eines lokalen Funktionärs: ein Haftbefehl für ihren Sohn.

Es gibt in dieser Geschichte kaum Kapitel, die Hoffnung machen. Eigentlich nur ein einziges: Im August trat Azizi der Facebook-Gruppe des Patenschaftsnetzwerks bei, einer Organisation, die unter anderem von Bundeswehrsoldaten gegründet wurde, um Ortskräften zu helfen. Dort lernte er eine Deutsche kennen, die ihn seitdem unterstützt. Sie sammelt Spenden, finanziert den Lebensunterhalt der Familie in Kabul und engagierte einen Anwalt in Deutschland. Dieser schrieb im Herbst eine weitere Gefährdungsanzeige ans Verteidigungsministerium und bat um eine Aufnahmezusage, so wie es Azizi selbst schon mehrmals versucht hatte.

Allerdings: Auch dieses Hilfeersuchen lehnte das Ministerium ab. Die Bundesregierung hält starr an der Regelung fest, dass keine Chance erhält, wer nur bis Ende 2012 oder früher für die Bundeswehr gearbeitet hat. „Federführend für das Verfahren ist das Innenministerium“, sagt ein Bundeswehr-Sprecher auf taz-Anfrage. „Gemäß einer interministeriellen Weisung ist der Stichtag für die Teilnahme am Ortskräfteverfahren auf den 01.01.2013 festgelegt worden.“ Grund dafür: Das Verfahren wurde erst geschaffen, als sich der Isaf-Einsatz der Nato damals dem Ende zuneigte und in die Mission Resolute Support überging. Die Bundeswehr schloss erste Standorte in Afghanistan und baute einheimisches Personal ab.

Wie der Fall von Azizi zeigt, sind den Taliban solche Feinheiten aber egal. Der Anwalt des Übersetzers, Yvo Dengs, vertritt mehrere Mandanten, deren Aufnahme an der Stichtagsregelung scheitert. „Es erschließt sich mir nicht, warum sie keinen Schutz erhalten, selbst wenn die Gefährdung und deren Ursache klar nachgewiesen sind“, sagt er. „Der Staat kommt seiner Verantwortung nicht nach, die seine Vertreter lauthals propagiert haben.“

Viel Handhabe hat der Anwalt nicht. Die Bundesregierung stützt sich beim Ortskräfteverfahren auf eine Regelung im Aufenthaltsgesetz, die es ihr erlaubt, ausgewählten Ausländern „zur Wahrung politischer Interessen“ die Aufnahme zu gewähren. Ein Anrecht auf Hilfe gibt es demzufolge nicht. Weder das Verfahren noch die Kriterien sind gesetzlich festgelegt. Die Ablehnungen kommen in dünnen Sätzen und können nicht angefochten werden. „Für den Rechtsstaat ist das unwürdig“, sagt Anwalt Dengs.

Rechtlich ist das Verfahren tatsächlich umstritten. Im Grundgesetz steht: „Jeder hat das Recht auf Leben.“ Daraus ergibt sich für den Staat eine Schutzpflicht, nicht unbedingt nur für Deutsche: In Urteilen in anderer Sache haben Gerichte in den letzten Jahren festgestellt, dass sich die Schutzpflicht auch auf Ausländer im Ausland erstrecken kann – sofern die Bundesrepublik für deren Gefährdung mitverantwortlich ist.

Die Ersparnisse sind alle

Bei den Ortskräften sei das der Fall, schreibt der Rechtswissenschaftler Gabriel Noll auf verfassungsblog.de: „Ohne für den deutschen Staat gearbeitet zu haben, müssten sie nicht um ihr Leben fürchten.“ Nach dieser Lesart haben gefährdete Ortskräfte ein einklagbares Recht auf Aufnahme, unabhängig davon, wann sie für deutsche Stellen gearbeitet haben.

Allerdings: Azizi müsste einen langen Umweg gehen, um das gerichtlich feststellen zu lassen. Er müsste trotz seiner abgelehnten Gefährdungsanzeige ein Visum beantragen. Auch dieser Antrag würde sehr wahrscheinlich abgelehnt, Azizi hätte dann aber zumindest einen offiziellen Bescheid, gegen den er vor Verwaltungsgerichten und im Zweifel durch die Instanzen bis vor dem Bundesverfassungsgericht vorgehen könnte. Das kann aber Jahre dauern. Die Zeit hat Amir Azizi nicht.

Er sitzt mit seiner Familie in der Wohnung in Kabul und hat Angst, dass ihn die Taliban dort finden werden. Lange will er nicht mehr im Land bleiben. Falls die neue Bundesregierung nicht doch noch einlenkt, sagt er, wird er wohl nach Pakistan oder in den Iran fliehen. Wie er sich mit seiner Familie dort dauerhaft durchschlagen wird, weiß er nicht. Seine Ersparnisse sind aufgebraucht.

Und falls er doch noch nach Deutschland darf? Hat er Pläne? „I want to become a nurse“, sagt Azizi auf Englisch und setzt dann noch mal neu auf Deutsch an. „Ich möchte eine Ausbildung zum Krankenpfleger machen. Ich möchte den Leuten dienen und ein bisschen Geld verdienen.“ Vor allem aber, fügt er am Ende noch hinzu, wolle er am Leben bleiben.

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