Menschen und ihre Gesellschaftsspiele: Es geht nicht ums Gewinnen

Nicht erst seit Corona wächst der Umsatz mit Gesellschaftsspielen immens. Aber warum spielen wir eigentlich so gerne?

Drei schick gekleidetet Frauen und ein Mann sitzen an einem TIsch und spielen Monopoly

„Vordergründig dienten Gesellschaftsspiele schon immer dem Eskapismus“ Foto: Frank Sorge/imago

Spielverlage gelten als typische Coronagewinner. Um 21 Prozent ist der Umsatz mit Gesellschaftsspielen im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Während das öffentliche Leben stillstand, haben Leute zu Hause gelesen, Netflix geschaut – oder eben Spiele gespielt. Dennoch ist die Erzählung vom Coronagewinner nur die halbe Wahrheit. Denn auch wenn das 21-Prozent-Wachstum immens ist – die Branche wächst bereits seit mehreren Jahren. Während der Umsatz 2012 noch bei 400 Millionen Euro lag, kletterte er im Jahr 2019 auf 594 Millionen, um dann coronabedingt auf 718 Millionen anzusteigen. Gesellschaftsspiele scheinen ein wachsendes Bedürfnis zu befriedigen. Aber warum spielen wir eigentlich so gerne?

Vorweg: Dieser Text wird die Frage nicht vollumfänglich beantworten können. Selbst wenn er sich über die ganze Ausgabe dieser Zeitung erstrecken würde, könnte er das nicht leisten. Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Verhaltensbiologie, Kulturwissenschaft, Ökonomie – sie alle beschäftigen sich mit dem Spiel und dem Spielen. Und beschränken sich dabei nicht auf Gesellschaftsspiele.

Daher zu Beginn ein kleiner Exkurs. Der Pädagoge Hermann Röhrs bezeichnet in seinem gleichnamigen Sammelband das „Spiel“ als „Urphänomen des Lebens“. Das scheint gleich recht hoch ins Regal gegriffen, aber Röhrs hat durchaus Argumente auf seiner Seite. Spiel begleite die menschliche Entwicklung von Anbeginn als eine „motivierende Tätigkeitsform“, schreibt Röhrs. Sobald die Spielfähigkeit abnehme, finde kaum noch menschliche Entwicklung statt, sondern nur noch die „Perfektion […] im personalen und beruflichen Bereich“.

Der Kulturhistoriker Johan Huizingas prägte Anfang des 20. Jahrhunderts den Begriff des „Homo Ludens“, des spielenden Menschen. Demnach eignet sich der Mensch Wissen und Fertigkeiten nicht vorrangig arbeitend (Homo faber) oder denkend (Homo sapiens), sondern eben spielend an. Das Spiel selbst beschrieb Huizingas als „freie Handlung“, die „als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann“. Der Soziologe Heinrich Popitz schließlich schreibt, dass das Besondere des Spiels sei, dass hier der „Mensch auf unproduktive Weise kreativ“ ist.

Spielen als eine „anthropologische Konstante“

Man könnte diesen Erklärungsansätzen weitere hinzufügen – eine allgemeingültige Definition, was Spiel und Spielen ist, gibt es nicht. Wohl aber Versuche, die unterschiedlichen Perspektiven auf Spiele und Spielen zusammenzubringen. Jens Junge ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und Marketing an der Berlin Universität für angewandte Wissenschaft und hat dort 2014 das Institut für Ludologie, also der Lehre vom Spiel, gegründet. Die Mitglieder des Instituts, die sich vorrangig aber nicht ausschließlich mit Computer- und Videospielen beschäftigen, wollen die Spielforschung als transdisziplinäre Wissenschaft etablieren.

Wie Röhrs bezeichnet auch Junge Spielen als „anthropologische Konstante“, vergleichbar etwa mit dem Schlaf. Der kindliche Spieltrieb sei „ein natürliches Element, sich die Welt zu erschließen, die Welt zu begreifen und die Welt unter Kontrolle zu kriegen.“ Das Gesellschaftsspiel, so Junge, erfülle eine ganz ähnliche Funktion, nur eben, wie der Name bereits sagt, auf einer höheren Stufe: der Gesellschaft. Frühe Gesellschaftsspiele ließen sich bis ins Jahr 11.500 vor Christus zurückverfolgen und seien eng mit der Sesshaftwerdung des Menschen verknüpft.

Der Mensch musste in dieser Zeit völlig neue Fähigkeiten erlernen. Wie verhalte ich mich dauerhaft gegenüber fremden Menschen, wie gehe ich mit ungleich verteiltem Besitz um, wie organisiere ich Arbeitsteilung? „Das Medium Gesellschaftsspiel war ideal dafür, diese neue Art des Zusammenlebens abzubilden und zu erlernen“, sagt Junge. „In Spielen werden Moral, Macht- und Herrschaftsformen verhandelt.“

Wie und warum funktionieren Gesellschaftsspiele?

Allerdings bilden Gesellschaftsspiele nicht nur Hierarchien ab, sondern entwerfen auch neue, utopische Welten. Beim Skat – Anfang des 19. Jahrhunderts erfunden, also mitten in der Restauration – waren es auf einmal die Bauern, die Trumpfkarten waren, und nicht die Könige. Beispiel für frühe Gesellschaftsspiele sind das königliche Spiel von Ur aus Mesopotamien, Senet aus Ägypten oder das indische Pachisi, ein Vorläufer des „Mensch ärgere dich nicht“. „Gesellschaftsspiele sind mit einer bestimmten Kulturentwicklung verbunden“, sagt Junge. Mittlerweile sind Gesellschaftsspiele ein selbstverständlicher Zweig der Unterhaltungsindustrie. Das heißt, dass sie kapitalistische Strukturen nicht nur reproduzieren oder kritisieren können, sondern auch ein eigener Teil dieser sind.

Vordergründig dienten Gesellschaftsspiele schon immer dem Eskapismus.

Vordergründig dienten Gesellschaftsspiele schon immer dem Eskapismus. Sie bieten Ablenkung, Zerstreuung und bereiten Freude, im besten Fall nicht nur den Gewinner:innen. Aber wie und warum funktionieren Gesellschaftsspiele eigentlich? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Wirtschaftsinformatiker Thomas Voit. „Es gibt in Deutschland zwar viele Game-Design-Studiengänge, die sich mit der Entwicklung von Spielen beschäftigen, aber die sind in der Regel sehr technisch ausgelegt“, sagt Voit. „Wenn es um das eigentliche Kreative geht, wird nicht selten auf ein gemeinsames Brainstorming oder auf die Intuition von Spielentwicklern verwiesen.“

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Voit ist Professor an der Technischen Hochschule Nürnberg und leitet seit 2016 das Projekt Empamos, eine empirische Analyse motivierender Spielelemente. Das Ziel: Spiel-Design-Elemente herauszuarbeiten, die uns innerhalb eines Spiels motivieren, weiterzuspielen beziehungsweise überhaupt erst anzufangen. Die uns – spielerisch gesprochen – am Ball bleiben lassen. Wie sie das gemacht haben? „Am Anfang haben wir einfach sehr viele Spiele gespielt“, sagt Voit. Unterstützt wurden sie dabei vom Deutschen Spielarchiv in Nürnberg, in dem insgesamt 30.000 Gesellschaftsspiele gelagert sind.

Der Zufall sei so ein klassisches Element, das in fast jedem Spiel vorkomme, sagt Voit. Andere sind zum Beispiel Zeitlimits, eine Verlier- oder Siegbedingung, Informationsasymmetrie oder das Sammeln oder Loswerden von Objekten. Alles Elemente, die uns aktiv werden lassen, auf die wir in irgendeiner Weise reagieren müssen. Insgesamt haben Voit und sein Team so 101 motivierende ­Spielelemente zusammen­getragen.

Da sie diese nicht alle durchspielen konnten (und wollten), haben Voit und sein Team eine Software auf die Textanalyse von Spielanleitungen trainiert. Diese erkennt an bestimmten Wortkombinationen, ob ein motivierendes Element in einem Spiel vorkommt. Ein Element müsse in mindestens 25 Spielen vorkommen, bevor sie es aufnehmen, sagt Voit. Im Durchschnitt hätten Ge­sellschaftsspiele etwa 20 motivierende Elemente. Ein Spiel mit sehr wenigen Elementen sei zum Beispiel Vier gewinnt, Spitzenwerte erzielt beispielsweise das Brettspiel Arkham Horror mit 48 Spiel-Design-Elementen.

Kontextübergreifend Motivation erzeugen

Anders als das Spielen ist Voits Forschung jedoch nicht zweckfrei. Ziel sei es, die Erkenntnisse auch in spielfremde Kontexte zu übertragen. Etwa in der Bildungsarbeit, der Drogen- und Suchtberatung oder in Unternehmen. „Das sind alles Bereiche, in denen motivationale Probleme auftreten, die mithilfe der richtigen Spielelemente gelöst werden können“, sagt Voit.

Es gehe nicht darum, das ganze Leben in ein Spiel zu verwandeln, so Voit, sondern gezielt Situationen anzusprechen, in denen Motivationsprobleme auftreten. Natürlich könnten diese Techniken auch missbraucht werden. Glücksspiele arbeiten beispielsweise mit einer Asymmetrie von emotionaler Belohnung und tatsächlichem Gewinn. Für Voit ist daher sowohl fürs Spielen als auch für die Nutzung seiner Spielgrammatik eins entscheidend: Es muss freiwillig sein. „Wer zum Spielen gezwungen wird, spielt eigentlich nicht“, sagt Voit.

Sein Forschungsinteresse hat Voit auf den ersten Blick teuer bezahlt, nämlich mit dem Verlust der Fähigkeit, ganz zweckfrei und unvoreingenommen neue Gesellschaftsspiele spielen zu können. „Ich analysiere eigentlich jedes Spiel sofort auf seine motivationalen Elemente“, sagt Voit. Er spiele aber immer noch gerne. Und obwohl er genau weiß, wie Spiele im Innersten funktionieren: Gewinnen tut auch er nicht immer.

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