Fliehkraft und Fernwohl

Wortmächtig und mit Blick fürs Detail: Stefan Schomanns Buch über die Steppe Zentralasiens, die letzten Wildpferde und die Leidenschaft fürs Reisen

Stefan Schomann: „Auf der Suche nach den wilden Pferden“. Galiani, Berlin 2021, 464 Seiten, 25 Euro

Von Edith Kresta

Die mongolische Steppe ist das wahre Reich der Mitte, zumindest geografisch. Sie verbindet Europa mit Asien. Stefan Schomann hat sich dort in den „weltverlorensten“ Landstrichen umgeschaut: Baty, Saissan, Askania Nova, Pech, Merle, Tschernobyl. „Auf der Suche nach den wilden Pferden“, so lautet der Titel des Buches über die Weite Eurasiens. Schomann bringt uns die Region, in der Russen, Kasachen, Kirgisen, Mongolen und Chinesen leben, näher mit seiner Passion fürs Reisen, die „Fliehkraft und Fernwohl“ kennt.

Aber vor allem hat Schomann den Reporterblick fürs Detail. Er ist ein wortmächtiger Schreiber, der seinen Themen immer neue Facetten, neue Bilder abringt, was selbst die ödeste Steppe lebendig macht. Er ist auch ein belesener Schöngeist mit Hang zur Natur. Und er erzählt von seinen eigenen Beweggründen, diese Reise ins Nirgendwo anzutreten. Stefan Schomann schreibt beste Reiseliteratur. Am ehesten vergleichbar mit dem Franzosen Sylvain Tesson, der sich auf 4.000 Metern über dem Meeresspiegel in Tibet auf die Lauer legte. Dort, wo der Schneeleopard zu Hause ist

Wie ein roter Faden zieht sich die Geschichte der fast ausgestorbenen Wildpferde, der Przewalski­pferde, durch das Buch. „Erst das Pferd hat diesen Erdteil geknackt und die Tyrannei der Entfernung aufgehoben“, schreibt Schomann. Er nimmt ihre Fährte immer wieder auf, ob im Berliner Zoo, im sächsischen Freiluftgehege, in der Zirkusmanege, in den Tiefen der Mongolei oder in den verstrahlten Landstrichen Tschernobyls. Auf seinem Ritt durch die Geschichte der Pferde streift er die apokalyptischen Reiter Dschingis Kahns genauso wie General Schukows Wissenschaft vom Siegen. Doch die Stärke des Buches sind die Reisen vor Ort. Dort trifft er Naturschützer, Reiter, Forscher, Landeskenner.

Stammvater der Hauspferde

Ohnehin ist er von Naturforschern angetan. Von Humboldt etwa, der bei seiner Reise durch Zentralasien den Wildpferden nicht begegnet ist, was Schomann sehr bedauert. Ist Humboldt doch ein großartiger, akribischer Beschreiber seiner Forschungen. Oder Alfred Brehm, der den asiatischen Esel zum Stammvater der Hauspferde erklärte, weil er die echten Wildpferde nicht gesehen hat. Erst der Russe Przewalski hat schließlich später das Wildpferd entdeckt.

Dieser russische Militär und Naturforscher hat noch ganze Herden mit eigenen Augen gesehen. Die Geschichte von Mensch und Pferd tauge allerhöchstens zum Schauermärchen, schreibt Schomann. Denn für die Wildpferde bedeute die Domestikation den Anfang ihres Endes. Einige wenige überleben in verschiedenen Tiergärten und einem Reservat in der Steppe. „Ein paar wenigen, weitsichtigen Personen ist es zu verdanken, dass die Nachfahren dieser wenigen Tiere dreizehn Pferdegenerationen später wieder in ihrer angestammten Heimat, den Randgebieten der Gobi in China und der Mongolei, ausgewildert werden konnten. Doch noch immer zählen sie mit rund neunhundert freilebenden Exemplaren zu den seltensten Großtieren überhaupt.“

Immer wieder lässt Schomann Geschichten in seine Geschichte der Pferde einfließen. Zum Beispiel die Strahlkraft der Höhlenmalerei von Lascaux, wo Wildpferde abgebildet sind. Seine kindlichen Erfahrungen im Münchner Tierpark Hella­brunn oder die Suche nach Sehnsuchtsorten im Dierke-Weltaltlas und beim Stadt-Land-Fluss-Spiel. Kindheitsgeschichten, die seine Weltlust geweckt haben, einige dieser Reportagen standen bereits in der taz.

Schomann verknüpft seine vielfältigen Reiseerfahrungen zu einer großformatigen, packenden Erzählung über das wilde Pferd mit dem tiefgründigen, sanften Blick.