Milo Rau über das neue „Kongo Tribunal“: In der zweigeteilten Welt

Um Ausbeutung, Gewalt und Umweltzerstörung geht es im „Kongo Tribunal“. Der Initiator Milo Rau berichtet von diesem Weltwirtschaftsgericht.

Drei Männer sitzen nebeneinander: v.l.n.r.: Opferanwalt Maître Josué Kashal vom Centre d'Aide Juridico-Judiciaire (CAJJ), Dorfchef Denis Mumba Kabange (Chef von Kaindu und Moloka) und Kleinbauer Jean-Pierre Tshimbu (Opfer der Verschmutzung in Kaindu)

Der Annwalt Maître Josué Kasha, Dorfchef Denis Mumba Kabange und Jean-Pierre Tshimbu beim Tribunal Foto: Junior Mutombo

Vor fast genau sechzig Jahren, im Dezember 1961, erschien Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“. Halb politische Kampfschrift, halb sozialpsychologische Analyse, ist es in seiner Verbindung von klassischem Marxismus und Psychoanalyse, Klassenkampf und Identitätspolitik ein Gründungsdokument des Postkolonialismus. „Die kolonialisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt“, heißt es in dem Buch, „die Grenze wird durch Kasernen und Polizeiposten markiert.“

Wie aber sieht diese „zweigeteilte Welt“ heute aus – und wie ist sie zu überwinden? Im Jahr 2015 gründete ich zusammen mit zahlreichen Ak­ti­vis­t*in­nen und An­wäl­t*in­nen aus Afrika und Europa in Bukavu im Osten der Demokratischen Republik Kongo das „Kongo Tribunal“. In öffentlichen Hearings in Afrika und Europa gehen unsere Un­ter­su­chungs­lei­te­r*in­nen seither den Verbrechen der multinationalen Minenfirmen in dem zentralafrikanischen Land nach. Es ist ein ziviler Wirtschaftsgerichtshof, eine Art wanderndes Studienzentrum des Neokolonialismus.

Denn die Demokratische Republik Kongo ist mehr als ein Land, es ist eine Metapher, ein Global-Ort. So groß wie ganz Westeuropa, besaß der Kongo immer das, was die Industrieländer brauchten, aber selbst nicht hatten: zur Zeit des völkermörderischen belgischen Königs Leopold (und vor Erfindung des synthetischen Gummis) den Kautschuk, zur Zeit Frantz Fanons (und der Atombombe) das Uran, heute die sogenannten „strategischen“ Mineralien Coltan und Kobalt – also jene Rohstoffe, die für die IT-Industrie und die Energiewende unerlässlich sind.

Diesen Dezember, auf den Tag genau 60 Jahre nach Erscheinen der „Verdammten dieser Erde“, machte das „Kongo Tribunal“ deshalb in Kolwezi im Südkongo Station, der „Welthauptstadt des Kobalts“ und damit wohl dem Schicksalsort der globalen Energiewende. Dutzende von Zeu­g*in­nen zogen anlässlich der sogenannten „Kolwezi Hearings“ vorbei, untersucht wurden die Geschäftspraktiken des Schweizer Rohstoff-Giganten Glencore, Jahresumsatz mehrere hundert Mil­liarden, der in Kolwezi über Subunternehmer die zwei größten Kobaltminen der Welt kontrolliert.

Drei Fälle und fünfzehn Stunden Verhöre von Minister*innen, Schürfer*innen, Überlebenden von Minenunglücken und Um­welt­ex­per­t*in­nen boten ein plastisches Bild neokolonialer Ausbeutung.

Erster Fall: Aneignung

Wer die Ausbeutung des Kongo verstehen will, muss einige Jahre zurückschauen. Im Osten des Kongo, wo 2015 die ersten Hearings des „Kongo Tribunals“ stattgefunden haben, brach in den späten 90er Jahren der kongolesische Bürgerkrieg aus. Eine der Folgen des Kriegs war der Sturz Mobutus, eine andere die Zerschlagung der staatlichen Bergbaugesellschaft Gécamines. Mitten im Krieg zwangen Ex­per­t*in­nen der Weltbank der kongolesischen Übergangsregierung ein ultraliberales Minengesetz auf.

Europäische und kanadische Minenfirmen sicherten sich in Kinshasa für Bestechungssummen, die die kürzlich bekannt gewordenen Bereicherungsfälle um den Kabila-Clan wie einen Witz erscheinen lassen, Konzessionen von der Größe von deutschen Bundesländern. Ein Mittelsmann von Glencore verhandelte im Präsidentenpalast einen Freundschaftspreis von 580 Millionen für die Lizenz zur Ausbeutung der beiden größten Kobaltminen der Welt in Kolwezi. Als wäre das nicht ohnehin ein fast grotesker Preis für Rohstoffe im Wert von Hunderten von Milliarden, wurden am Ende nur 140 Millionen tatsächlich gezahlt.

Doch das war nur der Auftakt: Den beiden kongolesischen An­wäl­t*in­nen und Un­ter­su­chungs­rich­te­r*in­nen in unserem Tribunal, Céline Tshizewa und Sylvestre Bisimwa, zeigte sich bei ihren Recherchen und Verhören ein System aus Steuerflucht und Steuerdeals, Subfirmen und multinationalen Firmen­stand­orten, die jegliche staatliche Überwachung unmöglich machten.

Der ehemalige Bergbauminister der Region Katanga, Barthélemy Mumba Gama, fasste es anlässlich der „Kolwezi Hearings“ vor drei Wochen wie folgt zusammen: „Die Unternehmen stellen überhöhte Rechnungen für ihre Leistungen aus und blähen ihre Betriebskosten auf, um zu behaupten, dass sie mit Verlust produzieren.“ Milliarden entgehen so dem kongolesischen Staat jedes Jahr. Und falls der Staat doch einmal einschreitet, schließt Glencore seine Kobalt-Minen einfach – bis der Lieferdruck so hoch wird, dass die Justiz einlenkt. Neoliberale Erpressung at its best.

Zweiter Fall: Gewalt

Als Fanon „Die Verdammten dieser Erde“ schrieb, war der sogenannte Westen noch stramm rassistisch, die Ausbeutung Afrikas völlig unreflektiert – und wenn, dann als industrielle Entwicklungstat. In mehr oder weniger allen afrikanischen Staaten herrschte der koloniale Apartheidstaat, mit schwarzen und weißen Vierteln, Schulen, Kirchen und Kinos. Wer sich von der einen Sphäre der „zweigeteilten Welt“ in die andere wagte, wurde mit Gewalt vertrieben. Europa zwang dem Kongo mit primitiver, militärischer Gewalt seinen Willen auf.

Doch die koloniale Gewalt hat den afrikanischen Kontinent nur scheinbar verlassen. Sie kehrt zurück, wenn es darum geht, die verbrecherisch angeeigneten Minen-Konzessionen gegen die Einheimischen zu verteidigen.

Doch die koloniale Gewalt hat den afrikanischen Kontinent nur scheinbar verlassen. Sie kehrt zurück, wenn es darum geht, die verbrecherisch angeeigneten Minen-Konzessionen gegen die Einheimischen zu verteidigen. Schon seit Generationen bauen kongolesische Schür­fe­r*in­nen die Vorkommen aus, die Glencore in den nuller Jahren „entdeckte“.

Allein in Katanga zählt man etwa 200.000 einheimische Bergbäuer*innen. Doch die „Zonen für handwerklichen Abbau“ genannten Gebiete schrumpfen mit jedem Deal, der in Kinshasa gemacht wird. Um irgendwie zu überleben, schleichen sich nachts die Einheimischen deshalb auf die Konzessionen, um Kobalt abzubauen und an chinesische Zwischenhändler zu verkaufen.

2019 kam es deshalb in einer von einer Tochterfirma Glencores betriebenen Mine – der Kamoto Copper Company – zu einem Unglück. Es ist nur ein Beispiel für Dutzende, ja Hunderte solcher Unfälle jährlich: Bei einem Einsturz eines Tunnels starben zwischen 80 und 300 Schürfer*innen.

Der Unfall selbst war, wie einer der wenigen Überlebenden vor dem „Kongo Tribunal“ im Dezember anonym aussagte, kein Zufall. Um die Grabungsarbeiten der einheimischen Schür­fe­r*in­nen zu unterbinden, bringt die Minenfirma nachts durch Explosionen ihre Stollen zum Einsturz. Da die Toten jedoch offiziell illegal sind, weisen sie jede Verantwortung zurück – wie auch für die Fälle, in denen die Minenpolizei Einheimische entführt, foltert, verschwinden lässt.

Dritter Fall: Zerstörung

Die berühmtesten, aber auch umstrittensten Kapitel in Fanons „Verdammten dieser Erde“ handeln von der Gewalt, die der Kolonialismus auf die Unterdrückten ausübt. Die ungebrochene Aktualität des Buchs beruht in diesen gleichsam identitätspolitischen Überlegungen, in denen Fanon dem klassischen Marxismus seine einseitige Fokussierung auf ökonomische Faktoren vorwirft.

Denn die Kon­go­le­s*in­nen mögen seit der Unabhängigkeit auf dem Papier gleichberechtigte Bür­ge­r*in­nen sein, in Wirklichkeit sind sie rechtlos, ja: illegal. Die Unterdrückung hat sich dadurch gleichsam naturalisiert, ist in das Bewusstsein der Menschen eingedrungen, hat ihren Stolz, ihren Willen, schließlich ihre Menschlichkeit aufgelöst. Oder mit Fanons bildlicher Sprache: „Die bösen Säfte ergießen sich, donnernd wie Lavamassen, in die Seelen der Unterdrückten.“

Als im April 2017 aus einer Pipeline Säure, die für den industriellen Abbau von Kobalt verwendet wird, in einen Fluss floss, Felder verschmutzte und sich 33 Bäue­r*in­nen an den kongolesischen Staat wandten, stritt die Minengesellschaft – wieder eine Tochtergesellschaft Glencores – schlichtweg ab, was passiert war. Ein Bericht der staatlichen Prüfstelle leugnete das Vorkommnis ebenfalls, worauf der Dorfchef Denis Mumba Kabange zusammen mit einem Anwalt eine unabhängige Prüfung in Auftrag gab.

Professor Kaniki, Umweltexperte und Zeuge bei den „Kolwezi Hearings“, fasste deren Resultate wie folgt zusammen: „Alles biologische Leben ist völlig verschwunden. In 50 Jahren kann man vielleicht auf eine Regeneration hoffen – aber nicht einmal das ist sicher.“

Noch brutaler ist der zweite Säure-Unfall, den wir im Dezember verhandelten. Auf der einzigen mehrspurigen, geteerten Straße Katangas – die es auch nur deshalb ist, weil über diese Straße zwei Millionen Tonnen Kobalt pro Jahr transportiert werden – ereignete sich ein Unfall, der an einen Horrorfilm erinnert. Im Februar 2019 stürzte ein Säurelaster einer Tochtergesellschaft Glencores um, zerquetschte einen vollen Personenbus unter sich und schüttete dann seine Ladung über die Menschen.

Wie in einer biblischen Apokalypse drang der Schwefel schließlich in die Erde des Friedhofs ein: seither schweigen sogar die Geister der Toten, wie ein Dorfchef und Priester dem „Kongo Tribunal“ erzählte.

Die Zeugin Lumbwe Nseba sah ihre Tochter sterben: „Die Flüssigkeit ergoss sich über sie, ich fand nur noch ihr Gesicht und ihren Hals.“ Die Schwefelsäure floss daraufhin über den Markt, tötete insgesamt 21 Menschen, andere wurden blind, verloren ihre Beine. Wie in einer biblischen Apokalypse drang der Schwefel schließlich in die Erde des Friedhofs ein: seither schweigen sogar die Geister der Toten, wie ein Dorfchef und Priester dem „Kongo Tribunal“ erzählte.

Unnötig zu erwähnen, dass auch in diesem Fall ein komplexes Geflecht von Subunternehmern jede legale Entschädigung der Opfer verhinderte. Glencores Tochterfirma konnte sich in der klassischen paternalistischen Rolle des Kolonisierers gefallen. Fünf Monate lang wurden Lebensmittel verteilt. „Als ob wir Bettler wären“, sagt eine Zeugin, die bei dem Unfall Mann und Tochter verlor.

Epilog: Das Stück wird weitergespielt

Was tun? Der Weg der Rebellion, zu dem Fanon vor sechzig Jahren riet, hat die Strukturen der kolonialen Ausbeutung nicht im Geringsten verändert. Die ehemaligen Rebellen sind heute Regierungsbeamte, die von Frantz Fanon so genannte „nationale Bourgeoisie“ hat sich mit den internationalen Minenfirmen (und ihren jeweiligen Regierungen) arrangiert.

Die Rollen wurden vertauscht, aber das gleiche Stück wird weitergespielt, bis in alle Ewigkeit: „Blackfacing der Ausbeutung“, wie es eine kongolesische Expertin ironisch ausdrückte. Entspannt sitzen deshalb die An­wäl­t*in­nen von Glencore in den hinteren Reihen des Parlamentsgebäudes von Kolwezi, in dem unsere Hearings stattfinden. Sie machen sich Notizen und lassen unseren Un­ter­su­chungs­rich­te­r*in­nen ab und zu schriftliche Statements zukommen, die im Ton postkolonialen Mitleids gehalten sind.

Denn sie wissen: Die Welt, in der wir leben, ist tatsächlich zweigeteilt, nicht nur physisch, sondern vor allem auch moralisch. Sie wissen: Den europäischen Kon­su­men­t*in­nen ist es absolut egal, dass die Energiewende unter Missachtung aller Menschenrechte im Kongo umgesetzt wird, solange sie mit ein wenig antirassistischer Awareness garniert ist. Elegant sorgen sie dafür, dass ihre Chefetagen divers sind und ihre Statements den Atem einer zynisch umgedrehten Identitätspolitik atmen. Ständig legen sie neue Programme zur Kooperation mit der Zivilgesellschaft und zur nachhaltigen Entwicklung auf, hinter denen die Ausbeutung unverändert weitergeht.

Mit dieser moralischen Schizophrenie setzen sie eine Tradition der Aufklärung fort: Schon die französischen Sklavenschiffe des 19. Jahrhunderts trugen Namen wie „Voltaire“ oder „Liberté“. Und Thomas Jefferson, der Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in welcher der Satz „Alle Menschen sind gleich geschaffen“ steht, war zugleich Sklavenhalter und Gegner der Sklaverei.

Passend deshalb vielleicht die Ironie, dass das Parlamentsgebäude von Kolwezi, in der all diese Verbrechen zur Sprache kamen, in Wirklichkeit selbst auf einer Konzession liegt.

Passend deshalb vielleicht die Ironie, dass das Parlamentsgebäude von Kolwezi, in der all diese Verbrechen zur Sprache kamen, in Wirklichkeit selbst auf einer Konzession liegt. Die Aussagen der Zeu­g*in­nen des „Kongo Tribunals“ werden kaum verklungen sein, wenn das Haus der Demokratie gesprengt werden und einer neuen Mine Platz machen wird. Die Frage ist deshalb nicht, was wir wissen, sondern was wir mit diesem Wissen anfangen. Frantz Fanon hoffte vor sechzig Jahren auf die „radikale Umwälzung des Systems“. Inspiriert von der kubanischen und der algerischen Revolution fantasierte er „eine neue Haut, ein neues Denken, einen neuen Menschen“, der die koloniale Ausbeutung endgültig hinter sich lassen würde.

„Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden und ihn dabei niedermetzelt“, schrieb er. Diese Bewegung, politisch, juristisch und moralisch, steht uns noch bevor, ob es uns gefällt oder nicht.

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[Link auf Beitrag 2957336]ist Autor, Regisseur und Intendant des NTGent. Vom 9. bis 11. Dezember fand das von ihm initiierte „Kongo Tribunal“ in Kolwezi statt. In der taz hat Milo Rau schon mehrfach als Gast geschrieben. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Grundsätzlich unvorbereitet“ im Verbrecher Verlag.

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