Neue Form der Vernunft: Kann unsereins auch pflichtbewusst?

Angesichts kulminierender Katastrophen müssen wir unsere bisherige Auffassung von Freiheit zugunsten des Prinzips der Verantwortung überdenken.

Fußgänger überqueren eilig eine Kreuzung

Was bedeutet es, in unserer individualisierten Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen? Foto: T.Seeliger/snapshot-photography/imago

Zum Jahresende hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (in der taz) darüber nachgedacht, ob es angesichts von Pandemie und Klimakrise nicht geboten sei, die staatsbürgerliche Pflicht zu rehabilitieren. Pflichten wurden im Zeitalter der Liberalisierung und Individualisierung nicht nur zurückgedrängt, sondern gelten bei Liberalen und Progressiven als Ausdruck von autoritärer Spießigkeit, die man Kretschmann ja nur zu gern attestiert. Aber auch der supercoole Soziologe Andreas Reckwitz hat (in der Zeit) eine Renaissance der Pflicht des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft skizziert. Das passt nicht nur den FDP-Leuten, sondern auch unsereins ganz schlecht, denn unser Leben soll doch eine never ending Bolero-Kür sein.

Versteht mich nicht falsch: Der Ausbau persönlicher Freiheiten und Rechte und deren Erweiterung in zuvor benachteiligte Teile der Gesellschaft in der Folge von 1968 war und ist super wichtig. Aber mit der „Gegenkultur“ wurde auch der sogenannte Neoliberalismus befeuert, das muss man sich erst mal eingestehen, wenn man wirklich eine Politik will, die auf das Gemeinsame zielt. Gerade vermeintlich Gesellschaftsprogressive waren es, die den verhassten Thatcher-Satz „There is no such thing as society“ selbst lebten. Die nichts mit dem Staat und der ihn tragenden Mehrheitsgesellschaft zu tun haben – und gleichzeitig alles vom Staat haben wollten, ganz wie es gerade passte.

Es geht nicht nur um das Impfen

Wenn wir nun zur Linderung der sich potenzierenden Krisen mehr Pflichtbewusstsein brauchen, wovon ich ausgehe, dann geht es eben nicht nur um Mitbürger, die sich nicht impfen lassen wollen. In der Lage, in der wir sind, kann die erste und oberste Pflicht des engagiert sein wollenden Menschen nur in einer intellektuellen und empathischen Zuwendung zu den ihm fremden Teilen der heterogenen liberaldemokratischen Gesellschaft bestehen. Armin Nassehi hat „Perspektivendifferenz“ als notwendiges Kunsthandwerk der Gegenwart bezeichnet. Das bedeutet, dass man nicht nur die Perspektive des anderen einnehmen können muss, sondern im Zweifel auch dessen Interessen zu den eigenen machen, damit deren und unsere Kinder eine ordentliche Zukunft haben können.

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Nun ist es aber so, dass die Renaissance der Pflicht längst noch nicht so entwickelt ist wie die Renaissance der Unvernunft. Teile der liberalen westlichen Gesellschaften haben total die Schnauze voll von dieser liberalen Gesellschaft und ihrem Vernunftanspruch. Und ich habe in diesem Jahr auch einsehen müssen, dass wir mit Kant und selbst mit dem Schwaben Hegel da nicht weiterkommen. „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“ ist ein schöner Poesiealbumspruch. Aber Freiheit kann auch sein, die Notwendigkeit eben nicht einzusehen. Freiheit ist auch, sich einen Scheiß um andere zu kümmern und um sich selbst.

Vizekanzler Robert Habecks zentraler Gedanke „Klimapolitik ist Freiheitspolitik“ wird sich nicht mit dem Verweis auf Kant, Hegel und die Aufklärung durchsetzen. Und schon gar nicht mit radikal-moralischer Anklage­rhetorik. Aber mit Vernunft vielleicht schon. Allerdings ist das keine Vernunft, die man absolut setzen kann, sondern eine empathische Vernunft, die sich dem politischen Wettbewerb stellen muss. Und die dann eine Mehrheit gewinnt, weil linke, rechte und liberale Liberale sich ihr anschließen.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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