„Frau im Dunkeln“ auf Netflix: Die nicht beachtete Beobachterin

Werden ältere Frauen unsichtbar? Maggie Gyllenhaal überzeugt mit ihrem Regiedebüt „Frau im Dunkeln“ nach dem Roman von Elena Ferrante.

Großaufnahmen der Schauspielerin Olivia Colman

Die Literatur­professorin Leda (Olivia Colman) bei ihrem Griechenland­urlaub am Strand Foto: Netflix

Frauen beschreiben ihr Erleben des Älterwerdens oft als ein Hinübergleiten in die Unsichtbarkeit. Es hat einige Vorzüge – und viele, viele Nachteile. In ihrem Regiedebüt „Frau im Dunkeln“ inszeniert Maggie Gyllenhaal Situationen, die sowohl für das eine wie das andere stehen. Und das mit einer Präzision, die in die Knochen fährt. Da wäre zum Beispiel der Abend, an dem Leda (Olivia Colman), eine Frau Ende 40, ins Kino geht. Außer ihr sind nur wenige Zuschauer da; viele der Stühle im hallenartigen Raum stehen leer.

Der Film hat längst begonnen, als eine Gruppe Jugendlicher hereinkommt. Lärmend und so mit sich selbst beschäftigt, dass sie dem Film gar keine Aufmerksamkeit schenken, setzen sie sich in die vorderen Reihen und blödeln weiter herum. Leda ist empört. Da niemand anderes etwas sagt, steht sie auf und droht damit, den Platzanweiser zu holen. „Mach doch!“, brüllt es aus dem Haufen zurück. Leda geht los und versucht, wenigstens die Kassiererin zum Einschreiten zu bewegen.

Als die, eher desinteressiert, den Saal betritt und mit Taschenlampe die vermeintlichen Störer sucht, halten die Jugendlichen auf einmal still. Nur um wenig später, Leda zum Hohn, wieder in umso lärmigeres Verhalten auszubrechen. Die Demütigung treibt ihr die Tränen in die Augen. Da steht einer der älteren Männer unter den Zuschauern auf und schimpft. Erst da geben die Jungen wie eingeschüchtert etwas Ruhe. Und Leda fühlt sich erst recht gedemütigt.

Die Bedürfnisse und deren Anerkennung

„Frau im Dunkeln“. Regie: Maggie Gyllenhaal. Mit Olivia Colman, Jessie Buckley u. a. Griechenland/USA/Großbritannien/Israel 2021, 122 Min. Läuft ab 31. 12. auf Netflix

Die Szene steht als exzellenter Beleg auch dafür, dass die „Unsichtbarkeit“ der älteren Frau nichts mit ihrem Aussehen an sich zu tun hat. Vielmehr geht es um ihre Bedürfnisse und deren Anerkennung. Wobei das Durchsetzen und Artikulieren dieser Bedürfnisse auch schon den jungen Frauen schwerfällt und schwer gemacht wird. Davon handelt Elena Ferrantes Roman „Frau im Dunkeln“, für dessen Adaption die Schauspielerin Maggie Gyllenhaal beim Festival in Venedig im vergangenen September einen Löwen für das beste Drehbuch erhielt.

Die Handlung des Romans hat Gyllenhaal von Italien nach Griechenland verlegt, ihre Leda ist keine italienische, sondern eine britische Literaturprofessorin mit Anstellung in Boston, USA. Aber im Ablauf der Ereignisse bleibt Gyllenhaal nah an den suggestiven Details der Prosa von Ferrante. Dinge wie der Obstkorb in der Ferienwohnung, der Leda beim Einzug so einladend erscheint.

Als sie sich am nächsten Tag eine Orange herausgreift, muss sie entdecken, dass sie an der Unterseite total verschimmelt ist. Und später ist da die Puppe, die Leda einem kleinen Mädchen am Strand klaut. Auch sie hat eine schockierend hässliche Seite: beim Saubermachen kommt aus dem Plastikmund ein ekliger großer Wurm herausgekrochen.

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Alles sieht nach einem gut geplanten Urlaub aus

Warum überhaupt klaut Leda, eine 48-jährige Literaturprofessorin, am Strand einem kleinen Mädchen die Puppe? Gyllenhaal gibt darauf in ihrem Film genau so wenig wie Ferrante in ihrem Buch eine echte Antwort. Allein die Bereitschaft, diese Frage zu stellen und die Bedürftigkeit zu spüren, die sich darin ausdrückt, könnte darüber entscheiden, ob einem dieser Film gefällt oder nicht.

Zuerst sieht alles nach einem gut geplanten Urlaub aus. Bei der Fahrt mit dem Leih­wagen zum Küstenort streckt eine entspannte, sonnenbebrillte Leda den Arm aus dem Fenster, wie man das so macht im Feriengefühl von warmer Luft und schöner Landschaft. Die Ferienwohnung, in die sie der amerikanische Ex-Pat Lyle (Ed Harris) bringt, ist spärlich eingerichtet, aber funktional. An das nächtliche Schiffshupen gewöhnt sie sich schnell, wie von Lyle angekündigt.

Der Strand ist zunächst ein Traum: eine kleine Bucht, in der die Aufmerksamkeit des netten Aushilfskellners Will (Paul Mescal) fast ihr alleine gilt. Bis ein lautstarker Familienclan, offenbar US-Amerikaner mit griechischen Wurzeln, aus kleinen Kindern, schwangeren Frauen und wenig vertrauenerweckenden Männern herankommt und große Teile der Badestühle mit Beschlag belegt.

Die ältere Frau, die alleine erst recht nicht zählt

Leda soll zurückweichen, damit sie alle nebeneinander Platz finden. Aber Leda weigert sich, dem Druck nachzugeben. Da ist sie wieder, die Unsichtbarkeit der älteren Frau, die erst recht nichts zählt, wenn sie alleine ist.

Später jedoch kommt Callie (Dagmara Domynczyk, den „Succession“-Fans als Pressesprecherin Karolina bekannt) wieder auf Leda zu und entschuldigt sich für das übergriffige Verhalten. So demonstrativ freundlich der Umgang der beiden Frauen nun miteinander ist, so spannungsgeladen ist das kurze Gespräch, mit dem sie aneinander Maß nehmen: woher sie kommen, wie alt sie sind, ob sie Kinder haben.

Callie, im siebten Monat schwanger, scheint sich Ermutigung von der älteren Frau zu erhoffen. Aber Ledas Antworten darauf, wie es ihr als Mutter zweier inzwischen erwachsenen Töchter ergangen sei, sind ausweichend und kompliziert. Zum Vorschein kommt während der ganzen Strandsequenz auch einer der Vorteile der Unsichtbarkeit der Älteren: Da niemand ihr Beachtung schenkt, solange sie nicht im Weg ist, kann Leda getrost selbst beobachten.

Die Beobachtung des Clans

Und die Beobachtung des Clans, darin besonders der noch sehr jungen Mutter Nina (Dakota Johnson) und ihrer kleinen Tochter Elena, fesselt die Aufmerksamkeit der Professorin bald mehr als ihre mitgenommene Stu­dien­lektüre. Gyllenhaal setzt das so großartig wie ökonomisch in Szene: Man sieht Colmans Leda schauen, mal von unter ihrem Sonnenschirm hervor, mal im Wasser bei einem kleinen Abkühlungsbad, und dann im Parallelschnitt das banale Treiben, dass sie so sehr interessiert.

Gyllenhaal ge­lingt es meis­ter­haft, statt flacher Thesen atmosphärisch nuancierte Widersprüche aufzufächern

Nina und Elena schmusen und toben, in den ruhigeren Momenten nimmt die Mutter ein Sonnenbad, während die Kleine mit ihrer Puppe spielt. Alles Anblicke, die Leda zutiefst aufwühlen.

Immer länger werden dabei die Sequenzen, die den Zuschauer in Ledas Erinnerungen an ihre eigene Zeit als junge Mutter transportieren. Nun gespielt von Jessie Buckley, sieht man Leda in der nicht untypischen Überforderung einer verheirateten jungen Akademikerin mit zwei kleinen Kindern. So süß die Mädchen sind, ist ihre Präsenz eben auch eine ständige Anstrengung. Sicher, es gibt Momente von herzlichem Gelächter und Familienspaß, aber dann wieder die alltägliche Nerverei um Schuhe­anziehen und Schlafengehen, so repetitiv wie kräftezehrend.

Das eigene Gefangensein als junge Mutter

Nach und nach enthüllt sich in diesen Rückblenden, was Ledas Antwort auf die Frage nach ihrer Muttererfahrung so kompliziert macht. Das wiederum auf so enge Begriffe wie Doppelbelastung, Schuldgefühl oder Versagensangst zu bringen, hieße die suggestive Kraft der filmischen Erzählung – und ihrer literarischen Vorlage – zu unterschätzen. Gyllenhaal gelingt es meisterhaft, statt flacher Thesen atmosphärisch nuancierte Widersprüche aufzufächern.

Leda erkennt in Nina nicht nur ihr eigenes Gefangensein als junge Mutter wieder, sie sieht auch den Klassenunterschied, der besonders in den Männergestalten des Clans deutlich wird. Immer wieder erntet sie misstrauische Blicke, muss sich kleine Einschüchterungen gefallen lassen.

Der 70-jährige Lyle wiederum behandelt sie, als müsse sie jede seiner Avancen mit Dankbarkeit quittieren. Die „Frau im Dunkeln“ ist nicht unsichtbar, sie wird allzu oft übersehen. Aber nicht in diesem Film, in dem Olivia Colman einmal mehr ihre wunderbar erwachsene Schauspielkunst entfalten darf.

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