BVerfG zu Menschen mit Behinderung: Ein Urteil, das erleichtert

Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts müssen Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage besonders geschützt werden.

Wegweiser zu einer Notaufnahme.

Wegweiser zur Notaufnahme eines Klinikums ins Hannover Foto: Julian Stratenschulte/dpa

KARLSRUHE taz | Behinderte Menschen müssen in der Pandemie besser vor einer Benachteiligung durch Ärz­t:in­nen geschützt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt den Bundestag verpflichtet, Behinderte im Fall einer Triage vor Diskriminierung zu bewahren. Dabei hat der Gesetz­geber aber einen weiten Spielraum.

Von einer Triage spricht man, wenn die Möglichkeiten des Gesundheitswesens nicht ausreichen, um alle Pa­ti­en­t:in­nen ausreichend zu versorgen. Dann müssen die Ärz­t:in­nen auswählen, wem sie helfen und wem nicht. Im Fall der Covid-Pandemie geht es vor allem um die begrenzten Kapazitäten der Intensivstationen der Krankenhäuser. Bisher konnte eine Triage in Deutschland verhindert werden, weil Krankenhäuser auf aufschiebbare Operationen verzichteten oder Pa­ti­en­t:in­nen in andere Landesteile ausgeflogen wurden.

Eine Gruppe von neun körperlich oder geistig behinderten Menschen sah die Gefahr, dass sie bei einer Triage benachteiligt werden. Sie erhoben gemeinsam Verfassungsbeschwerde, weil der Bundestag sie bisher nicht ausreichend vor der drohenden Diskriminierung geschützt habe. Zu den neun Klä­ge­r:in­nen gehörte etwa die Juristin Nancy Poser, die an einer Muskelkrankheit leidet, aber auch ein junger Mann mit Down-Syndrom.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Präsident Stephan Harbarth gab den Klä­ge­r:in­nen nun recht. Der Bundestag müsse „unverzüglich“ tätig werden. Eine konkrete Frist nannten die Rich­te­r:in­nen nicht. Einen Eilantrag der Klä­ge­r:in­nen hatte das Verfassungsgericht im Juli 2020 noch abgelehnt.

Definition Der Begriff Triage kommt aus der Kriegsmedizin und leitet sich von dem französischen Wort „trier“ ab, das „sortieren“ oder auch „aussortieren“ bedeutet. In der Coronapandemie geht es bei der Triage in der Regel um die ethische Frage, wer bei einem Mangel an Intensivbetten und Beatmungs­geräten intensivmedizinisch behandelt wird.

Leitlinien Mehrere medizinische Fachgesellschaften haben Leitlinien für Triageentscheidungen erarbeitet. Die Priorisierung solle sich demnach allein nach der klinischen Erfolgsaussicht richten und nicht etwa nach der Art der Erkrankung, dem Alter, sozialen Faktoren oder einer Behinderung. Ende November stellten die Fachgesellschaften auch klar, dass der Impf­status keine Rolle spielen dürfe.

Aktuelle Lage In Deutschland sind am Dienstag durchschnittlich noch 2,4 Intensivbetten pro Standort frei. Liegt dieser Wert über 2, können alle Notfälle behandelt werden. Bisher kam es in Kliniken noch zu keiner Triage, da Patienten bei Engpässen in andere Bundesländer verlegt werden konnten. (taz)

Maßstab der Rich­te­r:in­nen ist Artikel 3 des Grundgesetzes, in dem es unter anderem heißt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Auch die UN-Behindertenrechtskonvention sei zu berücksichtigen. Als behindert gilt laut Gericht, wer „in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist“. Auch chronische Krankheiten können insofern eine Behinderung sein.

Bisher gibt es keine gesetzliche Regelung, nach welchen Kriterien eine Triage ablaufen soll. In der Praxis würden sich Ärz­t:in­nen an einer Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) orientieren. Diese sieht als maßgebliches Auswahlkriterium die „klinische Erfolgsaussicht“ der Behandlung vor, also die Wahrscheinlichkeit des Überlebens. Dieses Kriterium hält das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich für „zulässig“.

In der Divi-Empfehlung ist zwar ausdrücklich klargestellt, dass „Behinderungen“ bei der Auswahl der zu behandelnden Pa­ti­en­t:in­nen keine Rolle spielen dürfen. Die Ver­fas­sungs­rich­te­r:in­nen sehen allerdings die Gefahr, dass Ärz­t:in­nen doch gegen Behinderte entscheiden. Zum einen könnten hier Vorurteile, Stereotype und andere „subjektive Momente“ eine Rolle spielen. Zum anderen könne es auch Missverständnisse geben, weil es an anderer Stelle der Divi-Empfehlungen heißt, dass weitere Krankheiten („Komorbiditäten“) und die „Gebrechlichkeit“ der Pa­ti­en­t:in­nen berücksichtigt werden dürfen.

Zwar habe die Divi in einer Pressemitteilung erklärt, dass es nicht um die langfristige Lebenserwartung geht, sondern um die Frage: „Welcher Patient wird jetzt und hier eher überleben?“ Den Rich­te­r:in­nen genügt das aber nicht. Angesichts der möglichen Missverständnisse müsse der Bundestag selbst tätig werden. Klägerin Nancy Poser ist erleichtert: „Für mich als Juristin war es sehr wichtig gewesen zu wissen, dass man sich auf die Verfassung verlassen kann“, sagte die Richterin am Amtsgericht Trier am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur.

Der Gesetzgeber hat nach dem Beschluss nun mehrere Möglichkeiten. So könnte er klarstellen, dass es bei der Auswahl nur um die Wahrscheinlichkeit geht, die konkrete Erkrankung zu überleben, und nicht um die Lebenserwartung insgesamt, die bei Behinderten tendenziell niedriger ist. Zusätzlich oder alternativ dazu könnte der Bundestag vorschreiben, dass immer zwei oder mehr Ärz­t:in­nen eine Triage-Entscheidung treffen müssen und dass die Entscheidung genau zu dokumentieren ist. Auch Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung der Me­di­zi­ne­r:in­nen sind möglich. Es gibt also keine Pflicht des Bundestags, die Triage generell zu regeln. Er kann hier also weiter auf Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften und Einzelfallentscheidungen der Ärz­t:in­nen vertrauen.

Nancy Poser, Klägerin

„Für mich war es sehr wichtig zu wissen, dass man sich auf die Verfassung verlassen kann“

Der Vorstand der Deutschen Stiftung für Patientenschutz, Eugen Brysch, begrüßte den Beschluss und forderte den Bundestag zum Handeln auf: „Der Bundestag steht jetzt in der Verantwortung, Kriterien für die Triage festzulegen. Schließlich geht es bei der Entscheidung um Weiterleben oder Sterben“, sagte Brysch dem Redeaktionsnetzwerk Deutschland.

Auch der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, bewertete die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als positiv. Der Gesetzgeber müsse jetzt Leitplanken definieren, nach denen sich medizinische Organisationen mit ihren Leitlinien richten müssten, sagte Montgomery den Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe. Die letzte Entscheidung liege aber immer bei den Ärzt:innen, denn Po­li­ti­ke­r:in­nen und Rich­te­r:in­nen können ja nicht im akuten Einzelfall auf einer Intensivstation über eine Triage urteilen, betonte der Vorsitzende des Weltärztebundes.

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