Lea Streisand ist auf Tanne allergisch: Kernfamilie im Nadelwald

Corona hat nicht nur Nachteile. Manche Fragen haben sich früher überhaupt nicht gestellt. Was etwa passiert, wenn plötzlich ein Baum im Haus ist.

Ein Mann hält beim offiziellen Start in die Berlin-Brandenburgische Weihnachtsbaumsaison auf dem Tannenhof Jung eine Nordmanntanne in der Hand

Genau so muss man einen Weihnachtsbaum anpacken, mit Handschuhen! Foto: dpa/Fabian Sommer

Nach zwei Jahren Pandemie kann ich es ja sagen. Corona hat nicht nur Nachteile. Manche Fragen haben sich vor einem Jahr überhaupt nicht gestellt. Mit wem man Weihnachten feiert zum Beispiel. Die Antwort war einfach. Mit gar keinem. Mutter, Vater, Kind, fertig. Wir hatten noch Oma und Opa dabei. Den Rest der Familie konnten wir wunderbar vermissen. Sehnsucht gedeiht in den Leerstellen, die eine Person hinterlässt, wenn sie abwesend ist. Es war ein herrlich besinnliches Fest.

Letztes Jahr hatten wir stattdessen das erste Mal einen richtigen Weihnachtsbaum. Wunderschön sah er aus. Die ganze Wohnung duftete nach Wald.

Und dann, drei Tage nach Weihnachten, wachte ich nachts in meinem Bett auf und hatte: HALSSCHMERZEN. So, dachte ich, das war’s. Nu haste Corona. Am nächsten Morgen rief ich meine Freundin Frieda an, sie ist Ärztin, ob sie mich testen kann. Von frei verkäuflichen Tests waren wir damals noch weit entfernt.

„Klar, kann ich machen“, sagte Frieda, „aber ganz ehrlich, wo willst du denn Corona herhaben?“

„Weeß icke“, sagte ich, „vom Paketboten?“

„Wieso?“, sagte Frieda, „Hat der Corona?“

„Nee, keine Ahnung“, meinte ich, „aber er ist mein einziger Fremdkontakt. Der spurtet hier immer die Treppe hoch und funkelt mich mit seinen braunen Augen an: Frau Streisand, ein Paket für Sie.“

„Und?“, kicherte Frieda. „Bist du dem irgendwie näher gekommen?“

„Türlich nicht“, erwiderte ich entrüstet. „Es ist Corona!“ Frieda und ich verabredeten uns trotzdem zum Testen. Bei ihr im Hinterhof.

Misstrauisch schaute ich den Baum an

Als ich auflegte, musste ich niesen. Dieses Jucken, dachte ich, das kommt mir bekannt vor. Misstrauisch schaute ich den Baum an. Langer Rede kurzer Sinn: Ich bin auf Tanne allergisch. Das Verhältnis Tanne vs. Wohnung war einfach zu krass für meine Lunge, da hat sie rebelliert. Der Baum verbrachte den Rest der Weihnachtszeit auf dem Balkon und dieses Jahr gab es nur einen ganz kleinen.

Das Verhältnis Tanne vs. Wohnung war einfach zu krass für meine Lunge

Mittlerweile sind wir alle geimpft und geboostert und schon müssen wir wieder Entscheidungen treffen. Mit wem wir feiern. Und wo. Und wie. Menschen, von denen man seit zwei Jahren nichts gehört und mit denen man außer ein paar zusammengewürfelter Gene nicht gemeinsam hat, melden plötzlich Harmonieansprüche an.

Und im Prinzip haben sie ja recht. Eine der berühmtesten Weihnachtsgeschichten der Welt handelt davon, wie ein narzisstischer alter Sack unter Androhung ewiger Verdammnis zum mitfühlenden Menschen umerzogen wird. Indem er zur Reflexion gezwungen wird über sein eigenes Leben und das der anderen.

Das ist unfassbar anstrengend

Es bleibt die ewige Hoffnung der Au­to­r*in­nen, dass Erzählen die Menschheit heilt. Dass Lesen und Zuhören das Einfühlungsvermögen fördern und zur Verständigung beitragen. Ich habe dieses Jahr meine fünfte Psychotherapie abgeschlossen und habe gelernt, dass ich vermutlich nur deshalb Geschichtenerzählerin geworden bin, weil ich mich schon mein ganzes Leben lang erklären muss. Weil ein Kind mit Behinderung (neben Allergien und einer überstandenen Krebserkrankung noch eine Gehbehinderung) in einer narzisstischen Umgebung nur überlebt, wenn es so gut erklären kann, dass es selbst dem, der nur sich selbst sieht, die Augen öffnet. Das ist unfassbar anstrengend. Und bringt manchmal trotzdem nichts.

Ich sei doch gar nicht so schlimm behindert, wurde mir dieses Jahr von mehreren Seiten mitgeteilt. Ich sei einfach nur faul und eine Prinzessin und wenn ich mich nur richtig anstrengen würde, könne ich dasselbe Leben führen wie ein weißer cis*­Mann ohne Behinderung.

Frieda sagt, man dürfe nicht mit der Familie brechen. Schon gar nicht zu Weihnachten. Ich sehe das mittlerweile anders.

Besinnliche Festtage allerseits!

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Schriftstellerin, zuletzt "Hätt' ich ein Kind" bei Ullstein, Kolumnen montags bei Radio Eins.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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