schlagloch
: Politikum Erschöpfung

In Zeiten der Pandemie macht sich Einsamkeit breit. Die psychischen Folgen sind ein soziales Phänomen, für das es entsprechende Lösungen braucht

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Georg Diez

ist Chefredakteur von „The New Institute“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“ im Frohmann Verlag.

Die Schlagloch-Vorschau

29. 12. Jagoda Marinić

5. 1. 22 Georg Seeßlen

12. 2. Ilija Trojanow

19. 1. Mathias Greffrath

Erschöpfung ist politisch. Auch – und gerade – weil dieser Umstand nicht so benannt wird. Die Erzählung ist eine andere, die Zeiten sind andere: Du bist müde, heißt es. Du schaffst es nicht. Aber du kannst es schaffen. Wenn du dich nur anstrengst. Wenn du dich nur zusammenreißt. Es liegt an dir. Wir anderen schauen zu. Uns geht es ja gut. Es ist deine Entscheidung.

Diese Erzählung ist Gegenwartsmythologie, sie erschafft Realität. Einzelne verhalten sich danach, die Gesellschaft orientiert sich daran. Das hat Folgen: Im Persönlichen bedeutet es, dass sich Fragen nach Druck, Veränderung, Leere, Perspektivlosigkeit als Makel erweisen, als eigenes Verschulden. Im Sozialen bedeutet es, dass die Organisation des Leidens, das gegenseitige Helfen, die Wärme und Würde skeptisch gesehen werden.

Es fehlen vielen die Vorstellungen, wie ein besseres Miteinander gestaltet werden könnte. Die Orte des Sozialen sind geschrumpft, Vereine, Gewerkschaften, Kirchengemeinde. Gemeinsamkeit wird in den Konsum ausgelagert, die Shoppingmall als Kirche. Es fehlen die Institutionen, wie empathisch, offen, nah andere gesellschaftliche Zusammenhänge hergestellt werden können, wie Hilfe geht.

Psychische Gesundheit, hat Geoff Mulgan gesagt, der lange die britische, staatlich gegründete und finanzierte Innovations-Agentur Nesta geleitet hat und heute unter anderem Fellow an The New Institute ist, psychische Gesundheit ist im 21. Jahrhundert ein Thema wie soziale Ungleichheit oder Teilhabe es im 19. und 20. Jahrhundert waren und bleiben – in Problemen der psychischen Gesundheit bündelt sich gesellschaftliche Unwucht.

Erschöpfung also als soziales Phänomen – in Zeiten von Corona am Ende dieses Jahres eine verbreitete Erfahrung – wird damit zu einer politischen Frage, einer Frage von Macht und Interessen, einer Frage von Verantwortung und Veränderung. Es geht darum, psychische Gesundheit insofern zu politisieren, als sie eben keine individuelle Herausforderung ist, sondern zu einer Herausforderung für den gesellschaftlichen und damit demokratischen Zusammenhalt geworden ist.

Was das konkret bedeuten kann, zeigt ein Beispiel aus Großbritannien, aus der Stadt Frome. Es geht dabei um eine andere gesamtgesellschaftliche Erkrankung, denn Erschöpfung ist nur ein Symptom – es geht um Einsamkeit, ein „globales Gebrechen“, wie es die New York Times nennt, die auch über die Lösungen berichtet, die in Frome entwickelt wurden und die Modellcharakter haben von Hongkong bis Kolumbien, von Australien bis nach Dänemark.

Ein Kerngedanke dabei ist, dass Einsamkeit erst einmal als medizinisches Problem gesehen wird und damit als solches angegangen wird – angefangen mit dem lokalen Krankenhaus, der Frome Medical Practice, die sich um das emotionale Wohlergehen der Pa­ti­en­t*in­nen kümmert, indem Verbindungen zu lokalen Freiwilligen- oder Selbsthilfegruppen hergestellt werden, wobei es um so banale wie essenzielle Dinge geht wie Kochen, das Leben mit der Digitalisierung, gemeinsames Gegenwartserlernen, gerade für Ältere.

In Frome hat sich darüber hinaus eine lokale informelle Infrastruktur entwickelt, die den Polis-Charakter der Politik betont, also die Frage danach, wie wir in einem städtischen Kontext zusammenleben – konkret sind das Ideen wie der „Gemeinschaftskühlschrank“, wo man sich Essen abholen kann, der Frome Coat Rack, wo es Mäntel und andere Kleidungsstücke umsonst gibt, und die Talking Bench, wo jeden Mittwochmorgen Freiwillige warten und mit jedem reden, der oder die das braucht.

Allein dieses Bedürfnis schon, das Formulieren dieser Notwendigkeit, das Benennen dieses Mangels, bedeutet eine entscheidende Veränderung in der mentalen Infrastruktur der kleinen Stadt – in der Beschreibung durch die New York Times wird eine wache Zärtlichkeit deutlich, wie sie entsteht, wenn Menschen aufeinander achten und die gegenseitige Schwäche wahrnehmen, anerkennen, aussprechen. Es ist ein anderes Verständnis von Politik und Gemeinsamkeit jenseits von Parteipolitik oder Interessen, sehr praktisch und menschenfreundlich.

Geoff Mulgan wandte sich mit seiner Bemerkung über die Politisierung der psychischen Gesundheit vor allem an die Sozialdemokratie, die etwa gemeinsames oder gesellschaftliches Lernen als Teilhabe im 19. und 20. Jahrhundert als zentrales Anliegen verfolgte – eine Art Bottom-up-Emanzipation, so wie auch die Antworten auf Epidemien der Einsamkeit sehr dezentral und lokal gedacht werden sollten, wie es das Beispiel in England zeigt.

Was fehlt, ist Empathie, Nähe, Zuwendung, Gemeinsamkeit in der Frage, wie wir mit den Folgen von Corona umgehen

Es ist damit eine andere Gestalt des Politischen, die sich hier entwickeln lässt, extrem wichtig in diesen Zeiten der Pandemie, der Maßnahmen und Lockdowns, eine andauernde (und oft notwendige) Praxis der Kontrolle und Überwachung, die die verbreitete Angst, Anstrengung, Erschöpfung oft noch verstärkt – was fehlt, ist so etwas wie Empathie, Nähe, Zuwendung, Gemeinsamkeit in der Frage, wie wir mit den Folgen von Corona umgehen.

Mehr als die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland sagen, dass sie mehr Angst vor Depression oder anderen psychischen Erkrankungen wie Einsamkeit haben als vor Corona selbst, das ergab gerade eine Studie der Generationen Stiftung – diese Folgen werden bleiben, auch wenn sich das Leben mit Corona irgendwann eingespielt hat und die Pandemie überwunden ist.

Auch das wäre eine Chance, eine Anregung, unser Leben anders gemeinsam zu organisieren, sozial zu experimentieren, die Folgen der Vereinzelung nicht kulturpessimistisch zu betrachten und betrauern, sondern konkret etwas zu tun – und damit dem Geist eines banalisierten und politisierten Individualismus entgegenzutreten, der sich seit Jahrzehnten viral verbreitet hat.