Schulgeld für Auszubildende: Versprechen gebrochen

Azubis der Heilerziehungspflege müssen in Niedersachsen Geld zahlen, wenn sie an einer freien Fachschule lernen. Das verschärft den Fachkräftemangel.

Pflegefachkraft Inga Hollmann kümmert sich in Essen in einer Beatmungs-WG um einen pflegebedürftigen Bewohner.

Das käme zum Beispiel nach der Ausbildung: Pflegefachkraft in einer WG, hier in Essen Foto: dpa / Caroline Seidel

OSNABRÜCK taz | Eigentlich schien ja alles in Ordnung. Als Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) in der Landtagssitzung vom 14. Dezember zum TOP 22 „Haushaltsberatungen 2022/2023 – Schwerpunkt Kultus“ ans Mikrofon tritt, steht im Redemanuskript, man sichere „ein wesentliches bildungspolitisches Ziel der Landesregierung, die umfassende Schulgeldfreiheit, gesetzlich ab“. Aber in seiner Rede schweigt er dazu.

Ohnehin: Worte sind nur Worte. Denn zumindest in der Heilerziehungspflege kann von Schulgeldbefreiung keine Rede sein. Dabei werden auch in diesem Bereich dringend neue Arbeitskräfte gesucht: Heiler­zie­hungs­pfle­ge­r*in­nen sind für die Unterstützung und Betreuung von Menschen mit Behinderung zuständig.

Annegret Jäkel, Schulleiterin der Fachschule Heilerziehungspflege der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, macht das zornig: „Die Heilerziehungspflege wird ständig nur vertröstet, und dann vergessen, anders als die Alten- und Krankenpflege“, sagt sie der taz. „Behinderte haben eben keine Lobby.“

Jäkel ist zugleich Sprecherin des niedersächsischen Bündnisses Heilerziehungspflege, dem unter anderen Caritas und Diakonie angehören, Lebenshilfe und Paritätischer Wohlfahrtsverband. Die Schulgeldfreiheit ist eine seiner Kernforderungen.

Das Problem: Schulen in freier Trägerschaft erhalten vom Land nur 80 Prozent der Finanzhilfen, die staatliche Schulen bekommen. Um das auszugleichen, zumindest teilweise, müssen die freien Schulgeld erheben. Rund 100 bis 150 Euro macht das pro Monat – in Neuerkerode sind es 95. Bei einer dreijährigen Ausbildung summiert sich das schnell auf zwischen 3.500 und 5.500 Euro.

Annegret Jäkel, Bündnis Heil-erziehungspflege Niedersachsen

„In der Heilerziehungspflege besteht extremer Fachkräftemangel“

17 der 38 niedersächsischen Fachschulen für Heilerziehungspflege sind in freier Trägerschaft. Würde das Land ihnen Mittel in Höhe des Schulgeldes zur Verfügung stellen, würde sich das pro Jahr auf zwischen 2 und 4 Millionen Euro summieren, schätzt Jäkel. „Im Vergleich zum Gesamt-Kultusetat des Landes von 7,5 Milliarden Euro in 2021 sind das Peanuts“, sagt sie. Jeder Politiker rede von Inklusion. „Aber die Ausbildung der Fachkräfte nimmt man nicht in den Blick.“

Jäkel versteht das nicht. „In der Heilerziehungspflege besteht extremer Fachkräftemangel“, sagt sie. „Und das ist ein toller Beruf. Aber gleichzeitig geht die Schülerzahl stark zurück.“ Man müsse also alles tun, die Ausbildung attraktiver zu machen. „Da sind solche Finanzierungslücken sehr kontraproduktiv.“ Die Schüler seien frustriert.

Jäkel kämpft schon lange dafür, dass das Land die freien den staatlichen Schulen finanziell so gleichstellt, dass das Schulgeld entfallen kann. „Und jetzt wird es scheinbar wieder nichts“, sagt sie. In der Vorlage zum Doppelhaushalt 2022/2023 fehle die Finanzhilfe erneut. „Seit Jahrzehnten verspricht uns die Politik, da was zu ändern. Aber nichts passiert.“ Kürzlich war Jäkel selbst im Landtag, zu Gesprächen mit Politikern der SPD. Geholfen hat das nicht.

Aber Jäkel gibt nicht auf: „Wir werden Widerstand leisten, zusammen mit den Schülern, die direkt davon betroffen sind.“ Für kommendes Jahr ist ein Aktionstag geplant.

Jäkel wünscht sich, dass sich Auszubildende frei entscheiden können, ob sie an eine staatliche oder an eine freie Schule gehen. „Da viele sich eine Schule nicht leisten können, die Schulgeld verlangen muss, ist das aber nicht gegeben.“ Niedersachsens Finanz- und Kultusministerium schöben sich gegenseitig die Verantwortung zu: „Und am Ende will es keiner gewesen sein!“

Hinzu kommt: Die Finanzierungslücke widerspricht dem Koalitionsvertrag von CDU und SPD von 2017. Dort steht unter „Bildung/Schulgeldfreiheit“: „Ferner wollen wir sicherstellen, dass Schulgeldzahlungen einer Berufswahl nicht im Wege stehen.“

Mehr noch: Dadurch, dass ihre Ausbildung Geld kostet, leiden Schü­le­r*in­nen freier Schulen unter einer finanziellen Doppelbelastung, denn die Ausbildung selbst ist vergütungslos. Die Evangelische Stiftung Neuerkerode bietet zwar praxisbezogene Schulplätze mit Vergütung an, aber das sind „hausgemachte Ausnahmen, um Schüler nicht zu verlieren“.

Die Ministerien schweigen

Warum das Land die freien Heiler­zie­hungs­pfle­ge­r*in­nen Mal um Mal übergeht? Kultus- und Finanzministerium, von der taz um Kommentierung gebeten, schweigen.

„Die Debatte um die Schulgeldfreiheit für die Heilerziehungspflege war befremdlich“, sagt Volker Bajus, Landtagsabgeordneter und sozialpolitischer Sprecher der Grünen. „Obwohl wir SPD und CDU immer wieder darauf angesprochen haben, wurde das Thema ausgesessen und beharrlich dazu geschwiegen. Damit brechen sie ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag.“ Mit ihrer „Vogel-Strauß-Haltung“ verschärfe die Große Koalition die ohnehin angespannte Personalsituation in den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.

„Schrittweise“ werde „die Ausbildung in den Sozial- und Pflegeberufen“ kostenlos, erklärt der SPD-Landesverband Niedersachsen auf seiner Website unter dem Versprechen „Koalitionsvertrag mit roter Handschrift“. Man setze „den Weg der gebührenfreien Bildung fort“. Dann kommen die freien Träger der Heilerziehungspflege-Ausbildung also vielleicht im nächsten Schritt dran. Oder im übernächsten.

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