Erste Regierungserklärung von Scholz: Ein Pflichtprogramm, keine Kür

Die erste Regierungserklärung des neuen Kanzlers fällt spröde aus. Unionsfraktionschef Brinkhaus wird lyrisch und kämpft – auch um seinen Job.

Kanzler Olaf Scholz bei einer Rede im Bundestag, Licht wird an einer Scheibe reflektiert.

Reflektionen im Plenarsaal: Kanzler Olaf Scholz bei seiner ersten Regierungserklärung Foto: Michael Sohn/ap

Berlin taz | In Olaf Scholz’ Arbeitszimmer hing früher ein Gemälde. Es zeigt einen eher skeptischen Helmut Schmidt in Öl. Für Sozialdemokraten gibt es noch immer zwei Pole, zwischen denen sie sich orientieren: der kühle Mitte-Pragmatismus von Helmut Schmidt und die Realpolitik von Willy Brandt, die immer weite Horizonte hatte. Nach der Regierungs­erklärung von Olaf Scholz ist klar, dass die Brandt-Variation der Ampel „Mehr Fortschritt wagen“ nur eine Ausleihe ist. Scholz will als Kanzler ein Wiedergänger von Schmidt sein. Vielleicht nicht ganz so klirrend kalt autoritär, aber norddeutsch nüchtern, arbeitsam.

Seine 85 Minuten lange Regierungserklärung liest Scholz am Mittwoch im Bundestag ab. Er verzettelt sich einmal bei der Pflegeversicherung. Ansonsten ist es ein unfallfreier Vortrag. Ohne rhetorische Glanzpunkte, ohne griffige neue Formel. Scholz arbeitet nochmal den Koalitionsvertrag ab – vom Mindestlohn, der schnell kommen soll, über den Wohnungsbau bis zu Europa.

All das ist durch einen roten Faden verbunden: Fortschritt. Scholz ist da ganz Nachfolger von Schmidt, der ein fast gläubiges Verhältnis zu technischer Moderne und Rationalität hatte. Der Fortschritt habe, so Scholz, in der Vergangenheit zwar auch die autogerechte Stadt oder die industrialisierte Landwirtschaft hervorgebracht. Aber das ist nur ein rasch absolvierter rhetorischer Umweg zum Ziel. „Wir brauchen mehr Fortschritt.“ Fehler erkannt, Fehler gebannt. „Innovation macht die Welt besser“, so das skepsisfreie Credo des Kanzlers.

Etwas wärmer wird der Ton beim Dank an „Frau Doktor Merkel“. Die habe jederzeit „uneitel, pragmatisch, ohne Allüren und umsichtig“ gehandelt. Es ist keine kühne Vermutung, in diesem Lob auch eine Selbstcharakterisierung des Kanzlers zu lesen.

Schoz redet ohne Pathos

Scholz’ Wortwahl ist so routiniert wie dieser Auftritt. Das Schlüsselprojekt der Ampel ist der mit viel Trommelwirbel angekündigte klimaneutrale Umbau der Energieversorgung. Bis 2030 sollen 80 Prozent des Strombedarfs aus Wind und Sonne kommen. „Ja, das ist eine gigantische Aufgabe. Aber ich bin der festen Überzeugung, das wird uns gelingen“, sagt er.

Blick in den Bundestag, die Fraktionen währen einer Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz.

Monotone Regierungserklärung: Olaf Scholz Foto: Michael Kappeler/dpa

Die Ampel wird alle verfügbaren finanziellen Ressourcen für die Investi­tio­nen in digitale und klimaneutrale Infrastruktur stecken. Das Gros wird mit privatem Kapital finanziert. Deshalb gibt es eine „Superabschreibung“, so Scholz, für Unternehmen, die dort investieren. Faktisch wird das eine locker konditionierte Steuersenkung für Unternehmen von rund 40 Milliarden Euro.

Das ist der Ampelkompromiss zwischen FDP, die Unternehmensteuersenkungen wollte, und SPD und Grünen, die vor allem Geld für Klimaschutz mobilisieren wollen. Die Ampel ordnet fast alles dem klimaneutralen Umbau unter. Deshalb sollen am Donnerstag beim Beschluss über den Nachtragshaushalt 60 Milliarden Euro, die eigentlich für die Bewältigung der Coronapandemie gedacht waren, für Klima und Digitales umgebucht werden.

Scholz’ Formulierungen sind geerdet, weitgehend pathosfrei. Hoch klingt der Ton allenfalls, wenn der Klimaumbau als „die größte Transformation unserer Industrie und Ökonomie seit mindesten 100 Jahren“ erscheint. Auch dieser historische Umbau ist ein technokratisch machbares Projekt, das mit der frohen Aussicht auf das gute Ende verknüpft wird. Was bei Merkel „Wir schaffen das“ hieß, ist nun „Ich bin der festen Überzeugung, das wird uns gelingen“.

Es ist kein Zufall, dass der erste spontane, heftige Applaus von SPD, Grünen und FDP ertönt, als Scholz ein Zitat vorträgt. Es stammt von Nancy Faeser, der neuen Innenministerin. Als Scholz „Die größte Bedrohung für die innere Sicherheit ist der Rechtsextremismus“ zitiert, klatscht auch die Linksfraktion.

Dass der Kanzler sich am Koali­tionsvertrag orientiert, sich zur Nato, zu Europa und zur Achse Paris–Berlin bekennt, ist das Pflichtprogramm. Scholz geht keinen Millimeter darüber hinaus. Die Kür fehlt. Das ist sein Stil. Verlässlich, nicht visionär. Wer Visionen hat, wird nicht mehr wie bei Schmidt zum Arzt geschickt. Visionen, jenseits des Machbaren, tauchen auf diesem Radar einfach nicht auf. Zu Corona formuliert Scholz ein paar Durchhalteparolen und schneidige Ansagen Richtung der „winzigen Minderheit von enthemmten Extremisten“. Dieses Vokabular klingt wie ein Imitat von Schmidts zackigem Lob der wehrhaften Demokratie.

Ein wertegeleiteter Schlüsselbegriff von Scholz lautet: Respekt. Das richtet sich gegen die Verachtung des sozialen Unten in den postindustriellen wissensbasierten Gesellschaften. Scholz mahnt an, dass „Kassiererinnen oder Krankenpfleger, Paketboten oder Bahnschaffnerinnen“ genauso unverzichtbar sind wie AkademikerInnen. Diese Idee knüpft an den US-Philosophen Michael Sandel und dessen kommunitaristisches Gerechtigkeitskonzept an. Respekt ist, mehr als Fortschritt, Scholz’ origineller geistiger Beitrag für die Ampel.

Was bei Merkel „Wir schaffen das“ hieß, ist bei Scholz: „Ich bin der festen Überzeugung, das wird uns gelingen“

Was in der Regierungserklärung fehlt, ist eine globale Ausdeutung dieses Respekts. Was ist mit ungerechter Verteilung des Impfstoffes? Deutschland und andere OECD-Länder beharrten auf dem Patentschutz für Impfstoffe. Das ist ein Grund, warum ärmere Länder noch immer wenig Impfstoff zur Verfügung haben und eine Hürde auf dem Weg zu einer globalen Pandemiebekämpfung. „Wir werden mehr Impfstoff exportieren und die Patente global freigeben, damit wir die Pandemie überall schnell bekämpfen können.“ Das sagt Scholz nicht. Es wäre ein Willy-Brandt-Satz gewesen.

Und die Opposition? Die Ampel ist die erste Regierung aus drei Parteien seit Langem. Auch die Opposition ist etwas Neues – und so verschieden wie nie. Union, AfD und Linkspartei. Ralph Brinkhaus, Fraktionschef der Union, macht mit einer engagierten, zündenden Rede klar, dass die Union in der Opposition den Takt angeben will. Mit der AfD gebe es nichts Gemeinsames: Sie sei keine „Opposition in der parlamentarischen Demokratie,“ sondern gegen sie. Brinkhaus redet frei und ohne Skript. Erst umschmeichelt er die Ampel. Der Kanzler, Robert Habeck und Christian Lindner „können stolz sein“.

Die Union startet Angstkampagnen

Scholz hält die Regierungserklärung, Brinkhaus die Oppositionserklärung. Auf die Freundlichkeiten folgt natürlich die scharfe Attacke, die klarmacht, wo die Union die Ampel treiben will – bei Schulden und Migration. Lindners Nachtragshaushalt sei, höhnt Brinkhaus, kein Taschenspielertrick, sondern, so die etwas schräge Metapher, „Sägen an der Schuldenbremse“. Nach nur fünf Tagen habe die FDP verraten, woran sie glaubte. Da ist etwas dran: Lindner hatte vor Kurzem noch ausgeschlossen, was er nun tut. Sparpolitik gehörte bis vor ein paar Wochen noch zum Tafelsilber der Liberalen. Lindners Mimik ist unter der Maske nicht zu erkennen. Habeck wendet sich nach Brinkhaus’ Attacke dem FDP-Mann auf der Regierungsbank zu. Offenbar ist Zuspruch nötig.

Brinkhaus ist Fraktionschef in Anführungszeichen. Bald schon wird es einen neuen CDU-Chef geben: Friedrich Merz, Norbert Röttgen oder Helge Braun. Alle drei sind in der Fraktion, und es ist gut möglich, dass sie Brinkhaus’ Posten beanspruchen. Doch dessen Auftritt ist geglückt. Denn er verbindet das Staatstragende mit der Absage an die AfD und scharfen Angriffen.

Die zweite Front wird die Union bei der Migrationspolitik eröffnen. Die Ampel wolle – so die Unterstellung – beim Sozialstaat weg vom Fördern und Fordern. Und mit dem Spurwechsel (der Möglichkeit, dass integrierte Asylbewerber bleiben) werde die Ampel, so Brinkhaus, „illegale Migration legalisieren“.

Der Unions-Frakionschef hatte Scholz lyrisch „Gottes Segen und alles Gute“ gewünscht. Doch die CDU/CSU wird Angstkampagnen gegen die Ampel führen: Angst vor Schulden und Flüchtlingen. Scholz’ Auftritt ist an Sprödigkeit kaum zu überbieten. Aber es kann von Vorteil sein, dass Scholz, der als Finanzminister lange die Schwarze Null verteidigte und als Innensenator für law and order stand, an diesen beiden Stellen wenig verwundbar ist.

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