Mediziner über Triage in der Pandemie: „Vom Gesetzgeber alleingelassen“

In Augsburg ist die Lage auf den Intensivstationen besonders angespannt. Axel Heller vom dortigen Universitätsklinikum übers eigene Triage-Konzept.

Ein Pfleger in den dunklen Gängen eines Krankenhauses

Sterile Gänge und Schutzkleidung: ein Arzt auf dem Weg zu einem Coronapatienten in Stuttgart Foto: Sebastian Lock/laif

taz: Professor Heller, das Universitätsklinikum Augsburg hat ein eigenes Triage-Konzept für den Fall entwickelt, dass es im Rahmen der Pandemie nicht mehr genügend Behandlungsplätze geben sollte. Warum war das nötig?

Axel Heller: Weil die Situation so wenig reguliert ist. Das wirklich Fatale ist ja, dass die Juristen uns sagen: Ihr könnt würfeln, ihr könnt Lose ziehen, ihr könnt nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ vorgehen. Es ist aus medizinischer Sicht aber überhaupt nicht vermittelbar, dass eine Person, die sehr wahrscheinlich versterben wird, in solch einem Fall den Vorrang bekommt vor einer Person mit einer viel besseren Prognose. Wir sehen da einen großen Regulierungsbedarf vonseiten des Gesetzgebers. Aber wir werden damit alleingelassen.

Der Mediziner ist Direktor für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Augsburg sowie Prodekan der medizinischen Fakultät der Universität Augsburg. Er koordiniert die Intensivkapazitäten der Region Nordschwaben.

Es gibt doch die Leitlinien der intensivmedizinischen Fachgesellschaften.

Die Leitlinien sind sehr allgemein, und deswegen hat sich unser klinisches Ethikkomitee hingesetzt, um ein ganz operationalisiertes Triage-Protokoll zu schreiben.

Und wie genau sieht das aus?

Als Allererstes ist festzustellen, ob der Patient eine Intensivtherapie überhaupt will. Wir halten die Leute hier in der Region an, dass sie schon zu Hause Patientenverfügungen vorbereiten – Krankenhaus ja oder nein, Intensivstation ja oder nein, Beatmung ja oder nein. Wenn der Patient das nicht möchte, wird er nicht auf eine Intensivstation aufgenommen, sondern palliativ behandelt. Das heißt, diese Patienten werden symptomkontrolliert, sie bekommen Schmerzmittel, ihre Atemnot wird gelindert und so weiter.

Was passiert mit den Notfällen, die behandelt werden müssen und wollen?

Auf der Intensivstation wird sowieso jeden Tag bei jedem Patienten der sogenannte SOFA-Score ermittelt, um zu schauen, wie krank ist dieser Patient. Aus diesem Score lässt sich auch eine Überlebensprognose ableiten. Mit einem zusätzlichen Gebrechlichkeits-Score wird dann noch geschaut, was ist denn das Beste, was der Patient im Vergleich zu seinem vorherigen Zustand nach der Intensivstation jemals wieder erreichen kann. Und dann wird eine Rangfolge gebildet, bei der nach Krankheitsintensität und Erfolgsaussichten abgestuft wird. Mit entsprechenden Farben wird die Aufnahme oder Weiterbehandlung auf der Intensivstation definiert.

Welche Farben stehen da für was?

In unserem Augsburger Modell gilt die Farbe Rot für die, die den dringlichsten Behandlungsbedarf und die höchsten Erfolgsaussichten haben. Die Gelben sind diejenigen, die am Ende der Skala sind und bei denen die Erfolgsaussicht sehr niedrig ist. Orange ist dazwischen.

Und wenn jemand schon am Beatmungsgerät ist, aber nur Orange oder Gelb hat und dann kommt jemand mit Rot, dann würde die erste Person vom Beatmungsgerät getrennt werden und die zweite kriegt es?

Es ist ein Gebot der Fairness, dass man alle Patienten, die zu dem Zeitpunkt in Behandlung sind, in die Bewertung mit reinnimmt. Auch einer, der gestern mit einem Herzinfarkt gekommen ist, wird im selben Verfahren eingeschlossen. Und derjenige, der die schlechtesten Erfolgsaussichten hat, der müsste dann als Erster von der Ressource getrennt werden.

Wer soll diese Entscheidungen treffen?

Ein dreiköpfiges Team aus Intensivmedizinern und Pflegekräften, das nicht unmittelbar an der Behandlung dieses Patienten beteiligt ist, um auch eine gewisse Objektivität zu haben. Und dieses Gremium würde dann jeden Tag über die Intensivstationen gehen und jeden Tag neu evaluieren.

Haben Sie dieses Team bereits?

Das Team ist namentlich benannt, ja.

Das klingt schon sehr konkret. Mussten Sie dieses Triage-Protokoll bereits anwenden?

Wir haben glücklicherweise hier nie die Situation gehabt. Momentan habe ich auch die Hoffnung, dass es in diesem Jahr dabei bleiben wird. Die Prognose, die vom RKI für unsere Region herausgegeben wurde, zeigt zum Jahreswechsel hin zumindest einen leichten Abfall. Damit wird das, was wir jetzt an Kapazität haben, wahrscheinlich nicht überzogen. Aber wenn wir die aktuellen Zahlen von Omikron sehen und das vorhersehbare Infektionsgeschehen über die Weihnachtsferien, dann kann es durchaus sein, dass wir im Januar dann doch vor die Entscheidung gestellt werden.

Wie nah sind Sie der Notwendigkeit einer Triage in dieser Pandemie bereits gekommen?

Tatsächlich hatten wir die letzten ein, zwei Tage die Situation, dass wir in ganz Nordschwaben nur noch ein Coronabett hatten. Das lässt sich nur sehr kurze Zeit durchhalten. Umso wichtiger ist es, da vorausschauend zu handeln. Wenn Sie eine Intensivstation mit 20 Betten haben und die sind voll ausgelastet und es gibt keine Reserven mehr, dann ist die Triage-Situation erreicht, sobald der 21. Patient kommt. Also muss man bereits bei der Belegung des 18. Betts schauen, dass man Betten frei bekommt.

Durch Verlegung in andere Krankenhäuser?

Wir haben hier in Nordschwaben schon in der zweiten Welle über drei Monate hinweg 180 Intensivpatienten zwischen den Krankenhäusern verlegt. Und das war noch wenig. Jetzt haben wir allein im November knapp 120 Patienten verlegt, einige wurden mit der Bundeswehr nach Norddeutschland ausgeflogen. Aber erst wenn diese Möglichkeiten der Verlegung genau wie die Möglichkeiten, Personal zwischen den Krankenhäusern zu verschieben und die Verschiebung aller elektiven Eingriffe vollständig ausgeschöpft sind, dann würde das Triage-Protokoll ausgelöst werden.

Von wem?

Das entscheidet letztlich der Ärztliche Direktor des Krankenhauses im Benehmen mit der Führungsgruppe Katastrophenschutz der Stadt. Was wir auch noch versuchen, ist, 36 bis 24 Stunden vor dieser Situation einen Voralarm in die Katastrophenschutzstruktur des Freistaats auszugeben, um mit dem Druck der drohenden Triage noch einmal weitere Ressourcen zu mobilisieren. Wobei man natürlich auch wissen muss: Wenn es so knapp wird, dann kann gerade der Transport zum größten Engpass werden.

Also geht es im Moment vor allem darum, alle Kapazitäten auszunutzen, um nicht diese schwierigen Triage-Entscheidungen treffen zu müssen?

Wir nutzen im Prinzip schon alle Kapazitäten. Wir haben hier noch das lokale Problem, das wir in Schwaben im Bayernvergleich pro 100.000 Einwohner die wenigsten Intensivplätze haben. Das muss in den kommenden Jahren verbessert werden. Aktuell bleibt uns, die Kapazitäten in einem Rahmen zu dehnen, der noch medizinisch vertretbar ist und wo uns auch das Pflegepersonal nicht davonläuft.

Haben auch Sie weniger Intensivkapazitäten als im vergangenen Winter?

Ja, das haben wir sehr schmerzhaft feststellen müssen. Letzten Winter hatten wir hier in der Region Nordschwaben um die 150 Intensivplätze, jetzt sind es 26 weniger. Rund 80 Leute haben der Intensivpflege den Rücken gekehrt.

Werden zur Freihaltung von Intensivkapazitäten auch beispielsweise Krebsoperationen verschoben? Und ist das nicht auch eine Form der weichen oder latenten Triage?

Den Begriff halte ich nicht für passend. Aber tatsächlich stellen wir schon seit Anfang des Jahres auch Krebsoperationen zurück, so weit sie zurückgestellt werden können. Wir haben hier durchweg Covid-Intensivpatienten gehabt, die Auslastung der Intensivstationen hat nie 85 Prozent unterschritten. Nun ist das noch mal schärfer geworden, die Auslastung liegt nahe 100 Prozent und auch dringlichere Operationen werden jetzt zurückgestellt, bis wieder Plätze frei sind.

Kann sich das nicht auch negativ auf die Erfolgsaussichten der betroffenen Patienten auswirken?

Es wird bei niemanden eine Operation geplant, bei dem keine Indikation zur Operation da ist. Also wirkt sich das natürlich auf den Gesundheitszustand der Patienten aus. Insofern passiert das, was wir eigentlich vermeiden wollen, schon die ganze Zeit.

Wenn wir davon ausgehen, dass die Situation mindestens noch bis Januar angespannt bleibt, was bedeutet das dann für die Krebspatient:innen? Müssen sie so lange auf ihre OP warten?

Wir haben hier jeden Tag eine virtuelle Sitzung zwischen den leitenden Oberärzten der chirurgischen Abteilungen und dem OP-Management. Da gibt es dann eine Anzahl von Intensivbetten, die am nächsten Tag annehmbar frei sind. Und dann wird geschaut, dass die dringlichsten Tumorpatienten drankommen. Wenn jemandem mehrfach abgesagt werden musste, dann wird auch das berücksichtigt.

Wenn Sie jetzt so ein dezidiertes Konzept für den Fall einer Triage ausgearbeitet haben, heißt das, dass Sie damit rechtlich auf der sicheren Seite sind?

Die Tatsache, dass man ein Beatmungsgerät abschaltet, um es einem anderen zu geben, ist strafbewehrt. Derjenige, der das dann am Ende macht, der Schichtarzt, muss sich nach jetziger Rechtsauffassung einem Verfahren wegen Totschlags stellen. Wie auch immer das am Ende ausgeht. Wir haben in einer Expertengruppe beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe verschiedene Online-Konferenzen gehabt, auch zusammen mit Staatsanwälten, mit Praktikern, mit Dogmatikern, mit Ethikern und je nach ihrer Ausrichtung hatte jeder ein anderes Rechtsempfinden. Entsprechend kann jeder Fall anders ausgehen.

Viele Ihrer Kol­le­g:in­nen sind sehr zurückhaltend im öffentlichen Gespräch über das Thema Triage. „Gibt es bei uns nicht“ und „Ist für uns kein Thema“ kommen da oft als Antworten auf Anfragen.

Natürlich will man den Eindruck des Alarmismus vermeiden. Aber ich beschäftige mich mit dem Thema Großschadenslagen seit Jahren, habe mehrere Studien dazu gemacht. Insofern sind Sichtung und Triage für mich auch ein Studiengegenstand, ich habe keine Berührungsängste, das zu erörtern. Für mich ist Triage auch kein Vermeidungsthema wie für viele Tod und Krankheit generell. Weil ich finde, dass wir einen breiten gesellschaftlichen Diskurs und klare gesetzliche Rahmenbedingungen dafür brauchen. Sonst lassen wir die alleine, die ganz am Ende der Nahrungskette die schwierigen Entscheidungen umsetzen müssen.

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