Stadtgespräch Bernhard Clasen aus Kiew
: Zwischen Hoffnung und Wut: Die Bewertungen des Biden-Putin-Gipfels gehen in der Ukraine weit auseinander

Unglaublich, aber wahr: Plötzlich hat die Kontaktgruppe wieder Kontakt. Zweimal in zwei Tagen hat das trilaterale Forum, in dem sich Ver­tre­te­r:in­nen der Ukraine, Russlands und der OSZE an der Umsetzung einer Friedenslösung für die Ostukraine versuchen, getagt. Zwar sprachen beide Seiten am Donnerstag Abend von einem Scheitern dieser Gespräche. Doch auch, wenn sich der Wunsch von Präsident Selenski nach einem Waffenstillstand, einem Gefangenenaustausch und einer Öffnung zusätzlicher Checkpoints zwischen dem von Kiew kontrollierten Territorium sowie den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk vorerst nicht erfüllt, ist Aufbruchstimmung zu spüren.

Der Hoffnungsschimmer könnte auch etwas mit dem virtuellen Gipfel von US-Präsident Joe Biden und Russlands Präsident Wladimir Putin vom vergangenen Dienstag zu tun haben. Die Bewertungen des Treffens gehen dabei weit auseinander. Ausgerechnet ein russischer Politologe, der im deutschen Exil lebende Igor Eidman, bezeichnete das Treffen von Biden und Putin auf gordonua.com als für die Ukraine erfreuliche Entwicklung. Biden habe seinen Gesprächspartner voll im Griff gehabt, ist sich Eidman sicher.

Eidman ist bei ukrainischen Medien ein gern gesehener Autor. „Dr. Biden weiß, wie er die Aggressionen seines Patienten abbauen kann. Zunächst schenkt er ihm demonstrativ Aufmerksamkeit, versäumt es gleichzeitig aber nicht, an die Pfleger zu erinnern, die an der Tür stehen. Nach so einem Treffen mit seinem Arzt beruhigt sich der gewalttätige Verrückte für eine Weile.“ Biden, so Eidman, habe begriffen, dass man mit Putin umgehen müsse, wie ein Psychotherapeut mit einem gefährlichen Klienten. Damit der Patient nicht über die Stränge schlage, so Eidman, stelle „Dr. Biden“ diesem ein weiteres Treffen in Aussicht. Der Patient verstehe, dass es dazu nicht kommen werde, wenn er komplett durchdrehe.

Eidmans Optimismus teilen viele Ukrai­ne­r*in­nen nicht. Eher herrscht Wut darüber, dass wieder über den eigenen Kopf hinweg verhandelt wurde. Einer dieser Unzufriedenen ist Wiktor Tregubow, Vorstandsmitglied der Gruppe „Das Demokratische Beil“. Die patriotische Vereinigung setzt sich für eine weitgehende Liberalisierung der Wirtschaft ein. Im Konflikt in der Os­tukrai­ne gilt die harte Linie. Man ist „gegen jegliche Kapitulation“ und fordert eine weitere Aufrüstung. „Ich wüsste nicht, dass es jemals in der Geschichte der Ukraine vorgekommen ist, dass das offizielle Kiew erst Tage, nachdem über sein Schicksal entschieden worden ist, informiert wurde“, schimpft Tregubow.

Auch die Pipeline Nord Stream 2 sorgt wieder für Ärger. „Überhaupt kein Taktgefühl haben die Amerikaner“, schimpft Max Buschanski, Abgeordneter der Regierungspartei „Diener des Volkes“, auf seinem Telegram–Kanal. Im vom US-Repräsentantenhaus am Dienstag verabschiedeten Verteidigungsetat für 2022 seien nun doch keine Sanktionen gegen Nord Stream 2 oder 35 russische Staatsangehörige aus „Putins Umfeld“ vorgesehen.

Für reichlich Gesprächsstoff sorgt der Gipfel auch in Charkiw, 70 Kilometer von der ukrainisch-russischen Grenze entfernt. Bei einem Einmarsch wäre Charkiw die wohl am meisten betroffene ukrainische Großstadt. Da sei auch viel „militaristische Hysterie“ dabei, meint ein Redakteur der Charkiwer Onlineplattform assembly.org.ua, Stanislaw Kibalnik. Die Stadt habe ganz andere Baustellen. „Schon seit einem halben Jahr ist das Amt des Gouverneurs vakant.“ Immer mehr Menschen würden ihre Jobs verlieren. Wegen der zu erwartenden Energiekrise werde es im Winter auch in manchen Wohnungen kalt bleiben. Von all diesen Problemen solle diese „Panikmache“ ablenken.

Unterkühlt gibt sich eine ältere Dame an einer Haltestelle am Stadtrand von Kiew, was nicht nur an Minustemperaturen und dem ausbleibenden Bus liegt. „Die USA und Russland bekämpfen sich bis auf den letzten Ukrainer“, philosophiert sie. Jetzt sprächen alle nur noch über einen geplanten russischen Einmarsch, doch was mit dem Donbass oder der Krim passiere, interessiere nicht. „Die Russen sind eindeutig die Gewinner dieses Videogesprächs“, sagt die Frau. „Sie werden nicht einmarschieren und als Dank dafür bekommen sie Nord Stream 2.“