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: Realpolitik zählt, nicht Werte

Der Westen empört sich moralisch über Russland. Das ist falsch. Stattdessen sollte man die Sicherheitsinteressen von Präsident Putin ernst nehmen

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RüdigerLüdeking

war Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei den Vereinten Nationen in New York und später bei der OSZE in Wien, wo er sich mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik befasste.

Der Videogipfel zwischen dem russischen Präsidenten Putin und seinem US-Kollegen Biden hat die Fronten geklärt. Wie bei diesem Gespräch am 7. Dezember deutlich wurde, geht es Russland im Kern darum, ein weiteres Vordringen der Nato in den postsowjetischen Raum zu blockieren. Vor allem soll verhindert werden, dass die Ukraine der Nato beitritt. Und Biden hat – kaum überraschend – nicht näher definierte wirtschaftliche Konsequenzen angedroht, falls es zu einer russischen Militäraktion gegen die Ukraine kommen sollte.

Die Nato hat in einer Erklärung am 16. Dezember verdeutlicht, dass sie es als Russlands Aufgabe ansieht, den Konflikt zu deeskalieren. Sie vertritt den Standpunkt, dass die Frage eines Nato-Beitritts lediglich eine Angelegenheit zwischen der Ukraine und den 30 Nato-Mitgliedstaaten sei. Damit stellt sie die Existenz legitimer russischer Sicherheitsinteressen in Abrede und negiert letztlich eine „gemeinsame Sicherheit“ der Staaten Europas. Viele westliche Experten sprechen jetzt von unüberbrückbaren Differenzen, wollen an der gerade von den USA aggressiv forcierten Nato-Erweiterung festhalten und geben sich der Illusion hin, Russland durch verschärfte Sanktionen zum Einlenken bewegen zu können. Dabei sollte doch nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre klar sein, dass Russland sich durch – zumal öffentliche – Positionierungen des westlichen Bündnisses nicht demütigen lassen wird.

Die Ukraine-Krise bleibt brisant, und die Kriegsgefahren sind nicht gebannt. Dieser ernüchternde Befund steht in krassem Gegensatz zu den beiderseitigen Bemühungen zu Beginn der 1990er Jahre, den Kalten Krieg zu überwinden und einen Raum gemeinsamer und gleicher Sicherheit in Europa zu schaffen. Zu diesem Zweck waren die Nato-Staaten bereit, Konzessionen zu machen. So enthält schon der 2+4-Vertrag über Deutschland aus dem Jahr 1990 eine Obergrenze für die Bundeswehr; außerdem verbietet er die Stationierung von ausländischen Streitkräften sowie von Kernwaffenträgern auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Und schließlich ist die Nato-Russland-Grundakte 1997 nicht nur von dem Bekenntnis zu unteilbarer Sicherheit und Zusammenarbeit getragen; in ihr hat die Nato auch dezidiert zugesagt, keine „substanziellen Kampftruppen“ und Kernwaffen in den Nato-Beitrittsstaaten zu stationieren.

Dies waren Schritte zu einem Interessenausgleich. Heute dagegen sind konfrontative Töne und ein unversöhnlicher Antagonismus vorherrschend. Auch unter dem Eindruck der zunehmend autoritären und repressiven Innenpolitik in Russland weigert sich die westliche Seite, von Putin verlangte Sicherheitsgarantien und die geforderte Wahrung eines Einflussbereiches als legitim anzuerkennen.

Die Außenpolitik der neuen Bundesregierung scheint im Wesentlichen durch moralische Entrüstung über das Regime Putin geprägt zu sein. Statt sich nachhaltig für eine Deeskalierung und Verhandlungen mit Russland einzusetzen, beschäftigt sie sich intern offenbar vornehmlich mit der Frage, ob unter den obwaltenden Umständen die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 überhaupt erfolgen darf. Am Rande sei erwähnt, dass mögliche russische Gegenmaßnahmen wie der Stopp von Energielieferungen völlig unbeachtet bleiben. Auch die realpolitische Erwägung, dass eine wirtschaftliche Schwächung Russlands sicherheitspolitische Instabilitäten zur Folge haben kann, scheint keine Rolle zu spielen.

Überhaupt: Außenpolitisch scheint man vor allem auf „Wertebasierung“ statt Realpolitik zu setzen. Dabei muss es doch darum gehen, eine kriegerische Auseinandersetzung in Europa zu verhindern. Deshalb ist es notwendig, Chancen für Dialog und Verhandlungen zu nutzen. Am 17. Dezember hat Russland Vorschläge vorgestellt, und sie bieten zumindest einen Ansatz für Gespräche, selbst wenn sie in zentralen Punkten völlig inakzeptabel sind. So kann die Nato beispielsweise den geforderten vertraglichen Verzicht auf eine Erweiterung keinesfalls akzeptieren. Die russischen Vorschläge für eine vertrauensbildende Rüstungskontrolle könnten hingegen eine Grundlage für ernst zu nehmende Verhandlungen bieten. Gleiches gilt für die russische Absicht, den Einsatz bestimmter Waffen zu beschränken. So ist es beispielsweise auch für den Westen von Interesse, über eine Nichtstationierung von Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite zu verhandeln, nachdem der entsprechende INF-Vertrag 2019 weggefallen ist.

Die Nato sollte einseitig auf den Beitritt der Ukraine verzichten und ihn nicht mehr aggressiv propagieren

Zur Wahrung unserer zentralen Sicherheitsinteressen sollte die Bundesregierung eine führende Rolle im Bündnis übernehmen. Die deutsche Politik sollte sich nicht von den markigen Sprüchen der „Falken“ irritieren lassen, die vor einer Beschwichtigung Russlands warnen. Aktuelle Beteuerungen der Ampel, man stimme sich mit den Bündnispartnern ab, reichen nicht aus. Es gilt jetzt vielmehr, sich aus der „diplomatischen Deckung“ zu begeben, um die gefährliche Eskalationsspirale im Verhältnis zu Russland zu durchbrechen. Trotz schroffer Gegensätze und inakzeptabler russischer Drohgebärden muss der Westen auf einen Interessenausgleich setzen, um den Frieden zu wahren. Ein expliziter Verzicht auf die Nato-Erweiterung kann nicht akzeptiert werden. Allerdings sollte die Nato einseitig auf die Aufnahme der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt verzichten und sie jetzt auch nicht weiter aggressiv propagieren.

Die neue Bundesregierung sollte nicht ausschließlich unsere Werte zugrunde legen und dem Wünschbaren nachhängen; sie sollte sich vielmehr an den Realitäten orientieren und sich an den luziden Ausspruch von Egon Bahr erinnern: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“