Krimi über haitianische Gesetzlosigkeit: Die exzessive Wirklichkeit Haitis

In Haitis Politik ringen Banditen mit Banditen um die Macht. Mit der Satire „Die Zauberflöte“ attackiert Gary Victor die desolaten Verhältnisse.

Gary Victor

Gary Victor Foto: Francesco Gattoni/Bridgeman

Obacht. Notwendigerweise ist im Folgenden von Fellatio die Rede, in schönen, ja lyrischen Worten – und nicht nur von Mord, Folter, Korruption und Terror. Oraler Geschlechtsverkehr steht buchstäblich im Zentrum von Gary Victors Roman „Masi“, der nun unter dem Titel „Die Zauberflöte“ auf Deutsch vorliegt. Vor allem geht es um einen verhängnisvollen Blowjob. Dem aktiven Part, dem sonst begabungsfreien Dieuseul Lapénuri, wird er einen Posten als Minister für moralische und staatsbürgerliche Werte im Kabinett Haitis einbringen, dem namenlosen Präsidenten einen Moment überbordender Lust bereiten.

Nicht dass am Ende noch jemand schockiert ist über explizite Zitate einerseits oder andererseits das Fehlen, wenn nicht des Verbrechens, so doch seiner Aufklärung. Denn der Romancier Gary Victor hat den Ruf, düstere, sehr gewalthaltige Krimis zu schreiben, was ja auch nicht ganz falsch ist: Mal, in „Schweinezeiten“, werden Pflegekinder über ein von einer faschistischen evangelikalen Sekte betriebenes Heim an deren Hierarchen als Organspende exportiert. Mal wird der General einer fatalen UN-Blauhelmmission exekutiert, weil er in die kriminellen Machenschaften seiner Waffenbrüder hineingefunkt hat, wie in „Suff und Sühne“. Und immer, wirklich immer ist die Polizei mit von der Partie. Sie duldet, fördert, organisiert die Verbrechen, oder sie vertuscht sie.

Wer nicht vergessen hat, wie reale Ermittler im realen Port-au-Prince nach nur zwei Tagen die Nachforschungen zum Ableben des UN-Kommandeurs General Urano Teixeira da Matta Bacellar eingestellt und ihn als Selbsttötung abgehakt hatten, weiß: Die Exzesse von Victors Büchern entstammen einer exzessiven Wirklichkeit. Ihr System wird mit dem Begriff „banditisme“ bezeichnet: In ihr kämpfen Banditen als Politiker mit Banditen als Geistlichen oder Militärs und Banditen als Wirtschaftsführer um die Vormachtstellung. Und Voodoo- und Christentum ringen erbittert darum, die Köpfe zu beherrschen. Und mit Ängsten zu knechten, was man Seele nennt. Trauriges Haiti!

Der Wahnsinn und das Chaos

Anders als in Deutschland, wo sie stets am Ende Zucht und Ordnung wiederherstellen, siedeln Victors Kriminalromane in einem vom Gesetz wirklich verlassenen Raum. Mit Glück und diffus wie durch einen tropischen Nebel scheint in ihnen für einen Moment der lichte Gedanke an Gerechtigkeit auf, wenn der alkoholkranke Ermittler Dieuswalwe Azémar sich aus seinen Albträumen und Delirien löst und mit freudloser Gewalt volltrunken der Sache ein Ende bereitet. Die Gattung ermögliche ihm, „den Wahnsinn, und das Chaos aufzugreifen, die Haitis Lage auszeichnen“, erklärt Gary Victor der taz in einer E-Mail-Korrespondenz. Telefonieren geht gerade schlecht, die Internetverbindung wackelt.

Gary Victor: „Die Zauberflöte“. Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt, Trier 2021. 178 Seiten, 14 Euro.

Die Lage aufgreifen ist das eine. Mit der herben Politsatire „Die Zauberflöte“ hingegen attackiert Victor sie frontal. Wieder einmal, gelegentlichen Drohungen zum Trotz. Denn ätzende Komik gehört schon seit jeher zu den Facetten des umfangreichen Œuvres, das der 1958 geborene Victor seit 1981 veröffentlicht hat. Auch der wackere Litradukt-Verlag kann es nur zum Bruchteil bewältigen: Bislang besteht es aus 23 Romanen, 13 Erzählbänden und 6 Thea­ter­stücken. Es ist jener selbstbewussten, transnationalen „Weltliteratur auf Französisch“ zuzurechnen, die das Manifest „Pour une littérature-monde en français“ 2007 ausgerufen hatte – als Gegenmodell zum Konzept der Frankophonie, also der virtuellen Einheit französischsprachiger Länder außerhalb Frankreichs. Victor zählte, neben Jean-Marie Gustave Le Clézio und Maryse Condé, zu den 44 Un­ter­zeich­ne­r*in­nen.

Akzeptieren, formatiert zu werden

In seinem Beitrag zur gleichnamigen Essay-Anthologie hatte er analysiert, wie die Frankophonie als kryptokolonialistisches Machtinstrument die Monopolstellung des einstigen Mutterlandes bewahrt. Gerade was die Literatur angeht, ihre Mittel, ihre Distributionskanäle. Diese bleiben ihm zufolge in Frankreich verankert. „Kein so genanntes frankophones Land ist in der Lage“, schreibt er, „einen Markt und eine symbolische Kraft zu entwickeln, die seinen Autoren ermöglichen würden, mit mehr oder weniger gleichen Waffen dazu in den Wettbewerb zu treten.“

Er selbst publiziert in Québec, wo das Verlagswesen aus ähnlichen Überlegungen erheblich gefördert wird. Zwar könnten, räumt Victor ein, mitunter auch Au­to­r*in­nen aus dem Globalen Süden auf Frankreichs Buchmarkt reüssieren. Doch dafür müssten sie sich diesem anpassen: Sie „akzeptieren, formatiert zu werden“. Statt französische Stimmen des Südens zu sein, werden sie zu südlichen Stimmen Frankreichs gemacht.

Vom Vater mit Tritten erzogen

Formatiert zu werden ist auch der Hauptcharakterzug des Ministerialbeamten Dieuseul Lapénurie, dessen Name nach Mangel klingt und nach verschrecktem Häschen riecht. Die Hauptfigur von „Die Zauberflöte“ besteht eigentlich nur aus Gesten der Unterwerfung. Darin liegt ihre Tragödie: Vom Vater mit Tritten erzogen, von Patres im Internat missbraucht, angetrieben von seiner ehrgeizigen Frau aus einflussreichem Haus und von seiner katholisch-charismatischen Gemeinde gen Macht bugsiert, gibt Dieuseul Lapénurie eine klägliche Gestalt ab.

Gerade weil er sich nur durch Anpassung definiert, gerät er in die hohe Politik. Und versinkt, ratlos, in deren Wirren. Noch erklären kann er sich ja, dass er dank der Fürsprache von Kirchenvorstand und Schwiegervater zum Vorstellungsgespräch beim Präsidenten geladen wird. Doch wie dieses sich entwickelt, das hat er nicht erwartet.

Er empfindet es wie einen sui­zi­da­len Sprung ins allzu warme Wasser der schönen Bucht von Porte-au-Prince, in der die Kanalisation der Hauptstadt mündet: „Dieuseul Lapénuri hatte das Ding in der Hand. Trotz seiner Härte pulsierte es“, schreibt Victor übers Tête-à-Unterleib mit dem Präsidenten. „Es war bedrohlich auf ihn gerichtet, wie ein Schwert, bereit ihn zu enthaupten. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass er in eine solche Situation geraten könnte. Er mochte Frauen. Nur Frauen. Alle anderen Praktiken riefen bei ihm einen fast schon metaphysischen Schrecken hervor. Er stürzte vom Steg und fiel in das von den Ausscheidungen der Stadt schleimig-grünliche Wasser. Öffnete langsam den Mund, schloss die Augen und spürte das warme Fleisch in sich. Er glaubte an den Adern des Gliedes den Herzschlag des Präsidenten wahrzunehmen.“

Tiefe und Würde

Peter Triers gut lesbare Übersetzung kann nicht ganz mithalten mit der erotischen Wucht und zärtlichen Poesie von Victors Französisch. In ihm vibriert die volle Ambivalenz des Akts, die Mischung aus Angst, Ekel, Neugier, katholischem Sündenbewusstsein und verinnerlichtem Auftrag, zwecks Karriere zu gefallen, die Lapénuris Herz und Kopf durchströmen. Ja, der lächerlichen Figur erwächst Tiefe und Würde in diesem seelischen Konflikt. Und wären es am Ende auch dessen physiologische Auswirkungen, die den Präsidenten in Ekstase versetzen?

Fatal. Denn nicht dem Präsidenten einen zu blasen, das macht ja jeder, wohl aber ihn dabei zum Orgasmus zu bringen, ist ein Verstoß gegen die Spielregeln. Das wird der alles überwachende Innenminister dem Neuling eröffnen. „Der Präsident ist jetzt besessen von Ihnen“, mahnt er ihn, um dann zur offenen Drohung überzugehen: Man werde sich schon zu rächen wissen. Außer der Herr Minister für moralische und staatsbürgerliche Werte würde Waffengleichheit herstellen, indem er den Kreis der Günstlinge seine Geheimtechnik lehrt. Bloß wie könnte er, wo er von ihr selbst nichts weiß?

Die Nachricht beherrscht die Headlines

Lapénuri wird bald zur Zielscheibe von Anschlägen, Schüsse fallen im Hof seines Amtssitzes: Wie eine Vorahnung schwebt bereits der Schatten der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse, den im vergangenen Juli ein Killerkommando erschossenen hat, über dem zum Heulen witzigen Werk. Der Gipfel der Bosheit aber ist jenes Dossier, das Lapénuri von seinen Kabinettskollegen untergejubelt wird, bezüglich eines Kulturfestivals, des „Festi Masi“. Es wird, gerade als er anfängt, aufrecht zu gehen, seinen Untergang besiegeln.

Masi, der Originaltitel des Romans, ist auf Kreolisch eine abschätzige Bezeichnung für Schwule. Mitunter wird sie auch als Geusenwort verwendet: So tun es die in Kanada lebenden Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen des „Massi­madi“, eines internationalen afro-diasporischen LGBTI-Film-und-Kulturfestivals. Das hätte 2016 in Port-au-Prince stattfinden sollen, und die bloße Ankündigung hatte dafür gesorgt, dass das gebeutelte Land auf einen Schlag keine anderen Probleme mehr hatte: „Die Nachricht beherrscht die Headlines, im Netz ist von nichts anderem die Rede“, hieß es damals in der Zeitung Le Nouvelliste.

Im Namen der individuellen Freiheit

Sehr bald wurde das Festival verboten. „Au nom de la liberté individuelle“, wie der zuständige Regierungskommissar verkündete, also „im Namen der individuellen Freiheit“. Einer der örtlichen Kuratoren von Massimadi, der Aktivist Charlot Jeudy, ist am 25. November 2019 ermordet worden. Einen Inspektor, der besoffen genug wäre, die ergebnislos versandeten Ermittlungen zu Ende zu bringen, gibt es nur in Büchern.

Das Lachen, das er mit „Die Zauberflöte“ provoziert, ist ein bitteres. Es sei nicht Zeichen der Gewalt, insistiert Victor aber. Es sei schlimmer. In dem Gelächter nämlich, schreibt er der taz, erklinge „die Verzweiflung über den Zynismus und die Scheinheiligkeit“ der politischen Kaste, „über ihre Verachtung des Volks, der Nation – ja mehr noch: ihrer selbst“.

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