Reisen in Europa: Klein, aber …

… nichts aber! Sechs Reiseberichte aus den kleinsten Ländern Europas, gegen das Fernweh in der vierten Welle.

Blick auf Valetta, Malta

Blick auf Valetta, Malta Foto: Maurice Kohl/plainpicture

Land der Ameisen

Gleich hinter der Grenze kommen die Outlets. Die Steuern sind niedriger in San Marino, und so ist das Land für die es umzingelnden Italiener ein Shopping-Ausflugsziel. Wir aber fahren weiter, durch kleinere Orte, bergauf und bergauf. Die letzten hundert Höhenmeter gehen wir zu Fuß; ganz oben, in der Città di San Marino, sind Autos tabu, dafür gibt es perfekt sanierte Gebäude aus gelblich beigem Ziegelstein und tausend tolle Blicke über die hügeligen Appeninausläufer und die nahe Adria.

Auch hier oben kann man shoppen: Ledertaschen, Parfüms, Souvernirnippes und, ein wenig gruselig, diverse Waffenläden voller Schnellfeuerpistolen prägen das Stadtbild. Ein harmloserer Verkaufsschlager sind Münzsets. San Marino ist zwar nicht EU-Mitglied, hat aber trotzdem den Euro. Auf die bei Sammlern begehrten Landesmotive braucht man als zufälliges Wechselgeld aber nicht zu hoffen. Auch Briefmarken gibt es zu kaufen, und wo man gerade dabei ist, kann man sich im Tourismusbüro auch für 5 Euro einen Tagesvisumsstempel in den Reisepass machen lassen. Sammlerparadies San Marino!

Zum touristischen Standardprogramm gehört es, die drei Gipfel des Monte Titano abzuspazieren, auf jedem steht ein gut renovierter Wehrturm. In einem davon weist ein Aushang darauf hin, dass die Türme gern von fliegenden Ameisen als Paarungsort genutzt werden: „Sie sind ungefährlich, achten Sie jedoch darauf, nicht auszurutschen.“ Michael Brake

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Land der Hosen

Wenn ich an die Vatikanstadt denke, denke ich an Schlangestehen, zu viele Menschen, und daran, wie meine Mutter versucht, am Eingang zum Petersdom eine hässliche lange Hose aus Plastik loszuwerden. Mein Vater hatte sie in der Not kaufen müssen, denn nackte Unterschenkel gehören im Dom bedeckt. Die Hose ist schnell weiterverkauft, wir machen sogar Profit.

Ich bin damals neun Jahre alt und denke, meine Aufnahme in den Himmel ist gesichert, weil ich von Weitem Papst Johannes Paul II. gesehen habe. Tausende jubelnde und fahnenschwenkende Erwachsene geben mir recht. Und dann ist da noch das 2.000 Jahre alte Grab von Petrus, das von feschen, in den Farben der Medici gekleideten Schweizergardisten bewacht wird. Wow.

100 Prozent katholisch, 100 Prozent Alphabetisierungsquote und kein Frauenwahlrecht – das ist der Stato della Città del Vaticano. Fromm, gebildet, männlich. Amtssprache: tot.

Mit neunzehn bin ich wieder dort. Ich bin aus pathetisch-romantischen Gründen nach Rom geflogen und sitze nun allein auf dem Petersplatz und versuche die Säulen und Statuen um mich herum in meinem Notizheft zu zeichnen. Der für einen großen Teil der Weltbevölkerung immer noch heiligste Ort auf Erden steht für mich mittlerweile für ein anachronistisches Überbleibsel patriarchaler christlicher Macht. Und für ein beachtliches Relikt der Renaissance. Der einzige Grund wohl, warum ich mir das Schlangestehen antue und zu viel Geld dalasse. Stunden später stehe ich vor der Schule von Athen, laufe durch die sixtinische Kapelle und bereue nichts. Ruth Fuentes

Land der Flucht

Eine Erde wie auf dem Mars, eine Sprache wie in England und eine zweite Sprache wie in Arabien, das ungefähr ist Malta. Mit anderen Worten: Mit Englisch kommt man überall prächtig durch; Maltesisch ist aber die interessantere Sprache, mit vielen italienischen Lehnwörtern, zudem die einzige der semitischen Sprachfamilie, die mit lateinischen Buchstaben geschrieben wird, was zu merkwürdigen Ortsnamen führt (Mdina, Ta’ Xbiex, Qrendi).

Das Meer ist weithin nicht zu übersehen auf Malta; es ist meist klar und rein, aber sein Boden ist steinig und einen Zugang über Sand gibt es nur selten. Das Festland hingegen ist rundum bebaut, jeder Quadratmeter wird für kleine hübsche Häuser, die gern „Villa“ heißen, oder für neumodische Hotels benutzt. Aber das ist ganz gut so, denn auf Malta brennt die Sonne selbst im September noch so stark, dass man liebend gern in die Gassen der urigschönen Hauptstadt La Valletta flüchtet oder gleich in die St. John’s Co-Cathedral, in der ein echter Caravaggio prangt.

Zu essen gibt es auf Malta viel Fish & Chips, zu trinken eine eigentümliche Blutorangenlimonade, die in echter Konkurrenz zur Coca-Cola-Industrie steht, und zu gucken natürlich reichlich Geschichte, von den Römern über die Mauren bis zur englischen Kronkolonie und darüber hinaus. Als Fluchtpunkt waren die maltesischen Inseln erst bei Hippies beliebt, jetzt bei Briefkastenfirmen und eine Zeit lang auch bei Phillip Boa. Ach, was soll man sagen: Lohnt sich! Aber immer gut eincremen. René Hamann

Land des Stampfens

Mit dem Motorrad aus der Schweiz kommend trinke ich meinen ersten Kaffee in Mäls, gleich hinter der Grenze. Die Sonne scheint, ich sitze draußen. In der Luft liegt ein merkwürdiges Grummeln, ein heiseres Rauschen. Ich halte das für einen Wildbach und fahre weiter, zwanzig Minuten nordwärts durch eine vom vielen Geld blank geleckte Alpinkulisse, vorbei an Vaduz bis an die Grenze zu Österreich.

Unterwegs denke ich daran, dass das winzige Liechtenstein, was wenige wissen, die größte militärische Leistung aller Zeiten vollbracht hat. 1866 wurde das Fürstentümlein am rechten Ufer des Alpenrheins von einem übermächtigen Verbündeten (Österreich) genötigt, gegen einen übermächtigen Gegner (Preußen) in den Krieg zu ziehen. 80 Soldaten überquerten mehrere Pässe und standen dem Feind schließlich in der Lombardei gegenüber. Weil niemand richtig Lust darauf hatte, kam es zu keinen Kampfhandlungen und nur zwei Verletzten, die von ihren Pferden getreten worden waren. Am Ende kehrten von den 80 Männern 81 zurück – den Liechtensteinern war es gelungen, einen gegnerischen Offizier als Freund zu gewinnen.

In Rugell bekomme ich Hunger. Auf der Terrasse des Restaurants wieder diese Geräusche. Ein ominöses An- und Abschwellen, rhythmisches Stampfen, pfeifende Obertöne – je nachdem, woher der Wind weht. Das kann kein Gewässer sein. Als das Schnitzel kommt, erklärt mir der Wirt: „Unsere Nationalmannschaft verliert gerade in Vaduz gegen Italien.“

Ein Land so ruhig und klein, dass man ein Länderspiel überall hören kann! Es hat es einen weiteren Freund gewonnen. Arno Frank

Land der Durchfahrt

Im Fernsehen sieht Andorra ja noch ganz schön aus, so aus der Distanz. Manche Tour-de-France-Etappe endet in diesem pyrenäischen Gebirgsflecken, weniger als halb so groß wie Berlin, dennoch ein eigener Staat, oberhäuptlich repräsentiert durch zwei Co-Fürsten: den (spanischen) Bischof von Urgell und Emmanuel Macron.

Winters richtet Andorra in seinem Skitourismusindustriegebiet Soldeu Weltcuprennen aus, was wiederum dazu beiträgt, dass dieser Kleinstaat nicht vergessen wird – der übrigens nicht Mitglied der EU ist, auch nicht zum Schengenraum gehört, was an den wenigen Grenzstraßen zu Pass- und, dies vor allem, Zollkontrollen führt. Ausgeführt werden sehr gern sehr günstige Alkoholika und Zigaretten, eingeführt alle Arten von irgendwie den Finanzämtern (wo auch immer) vorenthaltenem Geld.

Andorra la Vella, die Hauptstadt, sieht wie alles in Andorra schiefergrau aus, nichts ist lieblich, alle Architektur weist auf das beschwerliche Leben in diesem Schmuggler- und Hehlernest hin, vorgestern, gestern und wahrscheinlich noch immer. Max Frisch nannte eines seiner besten Theaterstücke „Andorra“, eine Parabel über Antijüdisches, über Schuld und jedenfalls nicht billig zu habende Vergebung, auf Theaterbühnen der fünfziger und sechziger Jahre eher nicht so populär. Andorra: das ist von Nahem auch eine gastronomische Vorhölle, nichts ist mit Raffinement oder Gusto zubereitet, das Sattmachende zählt. Durchfahrt – lohnt immer. Es muss bizarre Orte geben, sonst existierte ja keine Anmut. Jan Feddersen

Land des Geldes

Von Nizza ist Monaco ganz nah, 31 Minuten nur mit der Bahn entlang der Côte d’Azur. Auf der Fahrt bewundern wir Meer und Küste und lesen uns gegenseitig Monaco-Fakten vor, fast alle haben mit Geld zu tun: Es gibt 38.000 Monegassen und jeder Dritte oder jeder Zweite ist Millionär – je nach Statistik. Nirgendwo sind Immobilien so teuer wie im zweitkleinsten Land der Welt. So reich ist Monaco, dass es nicht einmal eine Armutsstatistik gibt.

Zunächst sehen wir davon nicht viel, nur graue Betonbauten mit traurigen Imbissen. Und dann auch noch Wolken. Oben auf dem Fürstenfelsen ist Wachablösung vorm Palast. Penibel wird auf die Maskenpflicht geachtet. „Wir sind hier nicht in Europa und nicht in Frankreich, das ist Monaco“, schnauzen zwei Polizisten einen jungen Mann an. Gleichschritt, Musik, Geschrei. Vorbei. Die Touristen ergießen sich über die Altstadt. Der Blick auf den Hafen offenbart wilde Luxusbauten und weirde Luxusjachten.

Ich lerne, dass Monte Carlo nur ein Stadtteil von Monaco ist, und frage mich, was ich eigentlich vorher dachte. Wir schlendern den nächsten Hügel hoch, zum wohl berühmtesten Casino der Welt. Schon beeindruckend. Davor stehen teure Autos, ich erkenne nur Ferraris und frage mich, ob wir mit unserem 19 Jahre alten Golf hier auch einfach hätten parken dürfen.

Der Reichtum kotzt uns an. Wir wollen baden. Wandeln durch den japanischen Garten, überholen eine stark operierte Frau, legen uns an den perfekt mit Sand aufgeschütteten Strand. Hier sieht man dann auch nicht mehr, wer Golf und wer Ferrari fährt. Und die Sonne kommt auch wieder raus. Paul Wrusch

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