Regisseurin über vielgestaltige Körper: „Das Sehen neu erleben“

Die Regisseurin Ursina Tossis versteht Barriereabbau als künstlerisches Mittel. Ihr Tanzstück „Fux“ erzählt von einer Transformation der Körper.

Zwei Menschen liegen eng beieinander, der eine hat die Hand im Gesicht des anderen.

Reich an Emotionen: Szene aus dem Tanzstück „Fux“ Foto: Alexandra Polina

taz: Das Nordwind-Festival umfasst mit „Soft Utopia“ Forderungen nach einer Strategie der Softness. Wie fügt sich Ihre Arbeit „Fux“ da ein?

Ursina Tossi: Ein Leitmotiv meiner künstlerischen Arbeitsweise ist exzessives Zeigen, ein Zuviel an Emotionen, Körper, Ausdruck und Nähe zum Publikum. Auch in „Fux“ spielen Emotionen eine große Rolle. Sie sind die Wetterlagen und Atmosphären, durch die wir mit dem Publikum reisen und die unsere Körper transformieren.

Das klingt nicht soft.

Ich kann mich mit Aspekten der „Radical Softness“ als queer-feministische Bewegung anfreunden. Das Ausagieren von Emotionen an Orten, an denen es Ordnungen stört und Normalität aushebelt, ist politisch kraftvoll. „Fux“ ist an vielen Stellen sehr verletzlich: Das Stück hat keine Held*innen, es behauptet nicht, sondern ist ein Prozess des Erinnerns.

„Fux“ ist Ihr erstes Stück, das explizit junges (und auch älteres) Publikum anspricht.

48, ist Tänzerin und Choreografin und verknüpft in ihren Arbeiten Tanz, politischen Diskus und intensive Körperlichkeit.

Das ist eine echte Herausforderung und ich schöpfe aus meiner Erfahrung als Mutter von drei Kindern, die 30, 16 und 8 Jahre alt sind.

Sie machen erstmals die Zugänglichkeit für Menschen mit Sehbehinderungen zum künstlerischen Werkzeug.

Wir arbeiten mit einer Gruppe von jungen Menschen mit Sehbeeinträchtigungen zwischen 8 und 16 zusammen. Es geht darum, ableistische Sehgewohnheiten und Körperbilder abzuschaffen und viel spannendere und ambivalente, vielgestaltige Körper auf die Bühne zu bringen. Die Begeisterung für perfektionierte Hochleistungskörper muss jetzt mal vorbei sein. Es sollte doch normal sein, dass Menschen mit Behinderungen eingeladen sind zum Tanz und ins Theater. Das steht nicht nur im Grundgesetz, das sollte Mainstream sein.

Wie gehen Sie vor?

Wir machen künstlerische Audiodeskription. Wir achten darauf, dass wir Zuschreibungen reflektieren, dass wir uns bewusst sind, was wir kre­ieren oder verdecken können, wenn wir Worte benutzen, um Tanz zu beschreiben. Audiodes­kription kann für Menschen mit Sehbeeinträchtigung und sehendes Publikum Kontexte öffnen, die sonst verborgen bleiben.

Ihr Stück ist inspiriert von George Saunders Buch „Fuchs 8“, die Überlebensgeschichte eines Fuchses, der versucht, mit menschlicher Zerstörung klarzukommen.

Wie ein Vergrößerungsglas hält Saunders in dem Buch auf den Moment des Verlusts, den unendlich traurigen Tod eines guten Freundes. Diesen Fokus auf die Trauer fand ich spannend. Denn in diesem ausgedehnten Moment findet der Gestaltenwandel statt, den ich auch in meinen Arbeiten immer wieder versuche herzustellen. Tiefgreifende Erfahrungen verändern uns nicht nur, sie verwandeln unseren ganzen Körper. Und wenn wir uns nicht radikal verwandeln, werden wir verwandelt werden.

Tanzstück „Fux“: Premiere Do, 2. 12., 10 Uhr, Hamburg, Kampnagel; bis Sa, 4. 12.

Sie wollen traditionelle Sehgewohnheiten aufbrechen.

Weil es jetzt um mehr geht als nur bildungsbürgerlichen Genuss oder Bestätigung. Was bleibt denn, wenn es kaum noch Kontakt zu anderen Wesen gibt, außer den narzisstischen Beziehungen zu unseren Endgeräten, den Algorithmen, den Wiederholungen der eigen Existenzen und den Besitz und das Töten andere Körper? Es geht also darum, das Sehen als Teil des Sensoriums neu zu erleben. Das ist natürlich ein Ansporn und keine Sache, die man beim Machen von Stücken mit einem Mal herstellt.

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