Hamburger Kiez früher und heute: „Ich habe immer Glück gehabt“

Helga Halbeck war früher Tänzerin in einem Stripklub, später hatte sie ein Café in Berlin. Heute reinigt die Rentnerin die Toiletten beim Fischmarkt.

Helga Halbeck steht für ein Porträt für ihrer Arbeitsstätte in der Sonne und lacht, sie arbeitet als Toilettenfrau am Hamburger Fischmarkt

„Meine 440 Euro Rente reichen ja nicht“, sagt Helga Halbeck, hier vor ihrer Arbeitsstätte Foto: Miguel Ferraz Araujo

taz am wochenende: Frau Halbeck, haben öffentliche Toiletten eigentlich Stammgäste?

Helga Halbeck: Es gibt viele Toilettenstammgäste! Ein Mann, Dirk heißt der, der sitzt im Rollstuhl, er ist obdachlos. Der kommt drei- oder viermal am Tag. Es kommen auch viele Spaziergänger, viele ältere Leute. Jetzt während Corona waren einige eine Zeit gar nicht mehr spazieren gegangen, weil alles zu hatte und sie nirgends auf Toilette konnten. Wenn die wissen, dass ich aufhabe, dann gehen die jetzt wieder spazieren und kommen tatsächlich extra hier her.

Das klingt, als würden Sie sehr viel Wertschätzung erfahren.

Ja, es gibt viele, die sich bedanken, dass alles so schön sauber ist. Aber das hält sich die Waage. Manche Ältere sind auch eher distanziert, würde ich sagen. Und wenn die jungen Leute besoffen sind …

Die Frau Helga Halbeck, 63 Jahre alt, ist in Hamburg geboren und hat unter anderem als Tänzerin, Köchin und Bäckereiverkäuferin gearbeitet. Halbeck wohnt in Hamburg-Altona.

Der Job Heute bessert sich Halbeck ihre Rente auf, indem sie die Toiletten am Fischmarkt reinigt. (maru)

… dann?

Neulich war hier eine, die war total besoffen und hat mir die Blumen dahinten geklaut und ist rausgeflitzt.

Waren Sie wütend?

Ach, da lache ich drüber und stelle neue hin. Der Alkohol macht das. Was ich wirklich hasse, ist, wenn die Mädels auf den Rand machen und das nicht wegmachen. Also wir Mädels setzen uns ja nicht auf alle Toiletten und dann geht manchmal was daneben. Da kann man ja Papier nehmen und das wegmachen. Natürlich kann ich da auch mit meinem Schnelldesinfektionsmittel rüber, ich habe ja auch Handschuhe. Aber trotzdem ist das auch unangenehm für mich. Ich habe da jetzt so Schilder hingehangen, dass die Toiletten bitte sauber gehalten werden sollen. Jetzt machen die Mädels das schon weg, stelle ich fest, früher war das nicht so gegeben.

Mussten Sie jetzt seit Corona auch mit Menschen diskutieren, die keine Lust hatten, Masken aufzusetzen?

Am Anfang schon, da waren manche echt frech, jetzt nicht mehr so. Wenn einer keine Maske auf hat, rufe ich dem zu, dass er die aufsetzen muss. Und wer die nicht aufsetzt, darf halt nicht rein.

Dem Schild an der Eingangstür zufolge sollte die Toilette jetzt in den Wintermonaten nur sonntags ein paar Stunden offen sein. Man trifft Sie hier aber auch sonst häufig an. Warum?

Normalerweise ist die Toilette von Oktober bis März unter der Woche geschlossen und nur sonntags von vier bis elf Uhr auf, also wenn Fischmarkt ist. Die Toilette gehört ja offiziell zum Fischmarkt. Aber jetzt, durch Corona, habe ich auch sonst mal ein bisschen aufgemacht. Ich sitze ja sonst auch nur zu Hause rum, das ist ja auch langweilig.

So gerne sind Sie hier?

Ja. Das ist wie ein Zuhause, weil ich mich hier wohlfühle. Die Leute sind da, zwischendurch setze ich mich mal raus und kann die Schiffe beobachten. Das ist Entspannung. Das ist ja auch ein Glück, viele Leute gehen gefrustet zur Arbeit.

Wie kam es, dass Sie angefangen haben, hier in der Toilette zu arbeiten?

Eine kleine Schüssel mit einem 50-Cent-Stück, so viel kostet einmal Toilette bei Frau

Einmal Klo kostet in Helga Halbecks Toilette beim Hamburger Fischmarkt 50 Cent Foto: Miguel Ferraz Araujo

Meiner Cousine gehört eine Reinigungsfirma und die ist für einige der Markttoiletten in Hamburg verantwortlich. Also nicht nur die hier, auch die in Flottbek und in Blankenese. Und so bin ich auch hier gelandet, vor so sechs oder sieben Jahren. Ich bin aber auch hier groß geworden.

Auf dem Fischmarkt?

Ich bin hier ganz in der Nähe geboren. Mein Vater hat auf dem Fischmarkt früher Fische filetiert, meine Oma hat vom Kutter aus Fische verkauft. Und ich hab als Kind hier gespielt, zwischen den Tieren.

Was für ein Kind waren Sie?

Ich bin das dritte von acht Kindern, wir sind vier Jungs, vier Mädchen. Es war natürlich so, dass alles von den älteren Geschwistern immer von den jüngeren wieder verwendet werden musste. Alles wurde aufgearbeitet, aufgebessert, Klamotten, Spielzeug, Puppen. Das hat mich genervt. Ich würde sagen, ich war ein bisschen bockig, stur und ich war frech. So wie ich mich früher verhalten habe, würde ich mich heute nicht mehr verhalten. Heute verstehe ich meine Mutter besser.

Haben Sie Mist gebaut?

Ja, ich habe viel Mist gebaut. Ich bin von der Schule geflogen und war eine Zeit lang in einem Heim für schwer erziehbare Kinder.

Warum?

Ich habe in der Schule nicht wirklich aufgepasst, ich habe immer gemalt. Das Malen hat mich interessiert und ich war auch gut darin. Und als ich einmal gemalt habe, kam meine Lehrerin und hat mir mit einem Lineal voll einen auf die Finger gegeben. Ich habe mich total erschrocken, der Stuhl kippte deshalb sogar um. Und dann habe ich ausgeholt. Deshalb bin ich von der Schule geflogen. Es war eigentlich ein Reflex, aber das glaubt einem ja keiner in dem Moment. Dann kam ich in das Heim. Ich lache da jetzt zwar drüber und irgendwie finde ich das auch lustig, aber heute würde ich das nicht mehr machen.

Wie ging es dann weiter für Sie?

Ich habe dann erst mal von zu Hause aus gelernt, eine Zeit lang ging das gut, aber dann hatte ich keine Lust mehr. Dann war ich eine Zeit obdachlos.

Als Jugendliche?

Ich glaube, da war ich so 16, das waren ein paar Wochen. Ich kann das nicht mehr so genau sagen. Das ist so eine Sache, die blende ich eher aus, würde ich sagen. Ich habe daraus gelernt. Ich glaube, deshalb habe ich auch gerne so Leute wie Dirk, der selbst obdachlos ist, um mich herum. Ich habe ihm jetzt gesagt, dass ich seine Wäsche wasche. Hier steht ja diese Maschine rum, die ist eigentlich nur für den Mopp und die Handtücher. Aber wenn sie schon mal hier ist, kann ich ihm ja auch die Wäsche waschen. Ich mache ihm auch Essen manchmal. Ich finde das schön, er braucht das ja auch.

Sie wollen helfen.

Ich versuche, etwas zurückzugeben. Ich weiß, wie das ist, wenn man wirklich nichts hat, wenn man auf der Straße ist. Ich glaube, das kann auch nur ein Mensch nachvollziehen, der das selbst erlebt hat. Ich habe auch mal Fischbrötchen verteilt an die Obdachlosen und dann haben sie hier alle auf der Mauer gesessen und gegessen. Ich finde das toll, das muss auch so sein.

Wie meinen Sie das, das muss so sein?

Die Leute müssen Hilfe bekommen und so viele tun nichts. Es ist schon ein paar Jahre her, da ist hier in der Nähe eine Frau umgekippt. Und alle sind vorbeigelaufen und haben nur blöd geguckt. Die haben gedacht: Bestimmt ist die besoffen. Aber das kann man ja nicht wissen, und selbst wenn. Ich habe dann einen Krankenwagen gerufen.

Was macht das mit Ihnen, diese Schicksale so oft vor Augen zu haben?

Da kriege ich Gänsehaut, aber nicht vor Freude, sondern vor Wut, das wühlt mich so auf. Ich habe ein Dach über dem Kopf und gebe gerne ab. Ich will die jetzt auch nicht alle bei mir zu Hause haben, das gäbe ja ein Chaos. Aber man kann schon ein bisschen mehr machen für die Menschen.

Wie ging es für Sie weiter, nachdem sie obdachlos waren?

Ich habe dann als Tänzerin gearbeitet, im „Regina“ auf der Reeperbahn. Ich bin sogar über vier Jahre auf Tournee gewesen, Cuxhaven, Kassel, Lübeck, Oldenburg. Das war eine wirklich schöne Zeit.

Das „Regina“ war ein Stripklub, oder? Sie haben schon als Jugendliche da angefangen?

Ich war so 16, ja. Aber später mit 18 war ich da richtig angemeldet. Ich habe Shows einstudiert, so richtig mit Kostümen. Und beim Tanzen ist dann erst ein Teil weggeflogen, dann das andere. Das war ein richtiges Striplokal, ja. Aber das war noch anders als heute. Als Tänzerin durfte ich nicht in die Menge rein und mich nicht mit Gästen unterhalten. Zwischen den Shows musste ich also in der Garderobe bleiben oder rausgehen.

Wie viele Shows in der Nacht haben Sie denn getanzt?

Das waren drei Auftritte in der Nacht, sechs Tage die Woche.

Das klingt sehr anstrengend.

Ja, das war schon hart, aber mir hat es wirklich Spaß gemacht. Das war mein Leben. Ich hab das gemacht, bis ich schwanger wurde.

Von der Tänzerin zur Mutter, den Bruch stelle ich mir schwierig vor.

Klar war das hart. Aber ich habe immer Glück gehabt. Ich habe auch weiter auf dem Kiez gearbeitet, in der „Tabu Bar“, und hatte so nette Nachbarn, die haben abends aufgepasst. Oder meine Schwester hat meine Tochter mal zu sich genommen. Ich weiß, dass das schwer war für sie, weil auch nicht alle gut fanden, was ich gemacht habe. Aber wir haben trotzdem immer zusammengehalten, das ist wichtig.

Ihre Familie fand Ihren Werdegang nicht gut?

Nein, die fanden das überhaupt nicht gut. Es hieß auch mal, ich würde nebenbei anschaffen gehen und so. Das war nicht so prickelnd für mich. Meine Oma war ein bisschen offener, die hat das akzeptiert. Aber meine Eltern eher nicht so. Ich konnte aber trotzdem immer zu ihnen kommen, das Verhältnis ist nie abgebrochen. Es war mal schlechter, als ich Hals über Kopf nach Berlin abgehauen bin. Aber meine Mutter und ich haben uns ausgesprochen, als ich wiedergekommen bin.

Waren Sie immer alleine mit ihren Kindern?

Im Endeffekt habe ich meine beiden Kinder alleine großgezogen. Ich war dreimal verheiratet. Aber die Männer konnten nicht so damit umgehen, dass ich so selbstständig und immer viel unterwegs war, würde ich jetzt sagen. Aber ich habe mit den Vätern meiner zwei Kinder ein gutes Verhältnis. Und so soll das auch sein. Ich würde die Väter nie schlecht machen gegenüber meinen Kindern. Das gehört sich nicht. Wenn die Kinder älter werden, dann merken sie von selber, wie die Menschen sind. Diese Erfahrung sollen sie selber machen und das haben meine Kinder gemacht. Da bin ich auch stolz drauf.

Was hat Sie denn damals nach Berlin verschlagen?

Da war mein zweiter Mann gestorben, der hatte einen tödlichen Unfall. Ich hab meine Tochter geschnappt und bin nach Berlin. Durch meine Arbeit im Nachtleben hatte ich viele Kontakte und Freunde da. In Berlin habe ich mich dann selbstständig gemacht, ich hatte ein kleines Café mit Mittagstisch, das Café „Petit Village“.

Wie kommt der französische Name? Haben Sie eine besondere Verbindung zu Frankreich?

Nein, aber ich mochte das Essen. Als ich Tänzerin war, habe ich ja viele Leute kennengelernt. Und da war ein französisches Ehepaar, die haben act duo auf der Bühne gemacht – eine Fickshow, krass ausgedrückt. Und die beiden haben immer schön Essen gemacht und da war ich auch oft eingeladen. Und deshalb mochte ich die französische Küche so und habe auch viel französische Backwaren angeboten. Später hatte ich auch noch einen Sexklub, den „Hexenkessel“, aber den musste ich schnell wieder zumachen.

Warum?

Weil 500 Meter weiter eine Schule war. Da haben die Anwohner dann Ärger gemacht. Aber das verstehe ich auch. Da habe ich nicht wirklich nachgedacht, muss ich ehrlich sagen.

Und wie kam es, dass Sie wieder zurück nach Hamburg gezogen sind?

Das war, als ich mich von meinem Mann getrennt habe. Ich bin ganz ehrlich: Ich habe ihn zu Hause mit einer anderen erwischt. Und dann bin ich halt weg. Ein Mann kann betrügen, ich komme aus dem Nachtleben, das habe ich oft gesehen. Aber zu Hause muss es sauber bleiben.

Sie haben dann noch weiter im Nachtleben gearbeitet, viele weitere Jobs gehabt. Heute wären sie eigentlich in Rente, aber arbeiten noch hier. Warum?

Zum Sparen bin ich trotzdem nicht gekommen und meine 440 Euro Rente reichen ja nicht. Ich fahre auch noch zweimal in der Woche Fisch aus mit dem Auto. Danach mache ich dann hier auf. Aber es macht auch Spaß. Und ich schlafe ja eh nicht.

Sie schlafen nicht?

Ich kann kaum schlafen. Mein Sohn hat mir mal erzählt, dass er hört, was ich im Schlaf rede. Und manchmal heule ich auch im Schlaf. Ich bin deshalb lange in Therapie gewesen, es gibt wohl einfach Sachen, die ich nicht verarbeitet habe oder ausblende. Aber ich weiß das jetzt und ich möchte keine Tabletten nehmen. Manchmal bin ich dann halt nach einer Stunde wieder wach und kann auch nicht mehr schlafen. Dann gucke ich Fernsehen oder nehme meine zwei kleinen Mini-Chihuahuas und gehe mit denen an der Elbe spazieren. Oder ich fahre eben Fisch aus.

Sie erzählen mit einem Lachen von Ihrem Leben. Aber es klingt auch sehr entbehrungsreich.

Ja, ich musste viel verarbeiten. Aber Vergangenheit ist Vergangenheit und wir leben morgen und nicht gestern. Natürlich gibt es auch Momente, in denen ich mich zurückziehe, das gebe ich ja auch zu. Dann bin ich zu Hause und heule. Natürlich geht das nicht alles einfach an mir vorbei. Aber ich versuche immer, das Beste draus zu machen und das klappt auch wunderbar. Ich bin wirklich glücklich.

Wie blicken denn Ihre Kinder auf Ihre Vergangenheit?

Die akzeptieren das. Und ich unterstütze sie, so gut ich kann, und das wissen beide auch. Mein Sohn studiert an der Uni Hamburg und gibt da auch Unterricht und meine Tochter führt mit ihrem Mann ein Restaurant in Eppendorf. Ich bin total stolz auf meine Kinder.

Sie sind ja quasi auf der Reeperbahn zu Hause. Wie nehmen Sie wahr, wie sich der Ort in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewandelt hat?

Ich finde das nicht mehr schön. Das ist doch keine Reeperbahn mehr, mit den ganzen Kiosken. Da fehlt das Flair. Wir haben früher auch getrunken, so ist das ja nicht. Wir haben viel getrunken und geraucht. Aber da haben wir drinnen gesessen und getanzt und uns unterhalten. Heute ist das nur noch ein Gesaufe und Gegröle auf der Straße. Aber ich muss das ja auch nicht schön finden, wenn die jungen Leute das schön finden, dann akzeptiere ich das. Sollen sie das gerne so machen, ich gehe dann vorbei, sage Hallo und alles ist wunderbar.

Vermissen Sie denn das Nachtleben manchmal?

Nee, vermissen eigentlich nicht. Das ist eine schönere Erinnerung jetzt im Alter, das lebt dann innerlich noch mal auf, wenn man so darüber nachdenkt.

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