Zu leicht für den Schreibstuhl: Man muss ein Mann sein

Schreibtischstühle funktionieren erst ab einem Gewicht von 70 Kilo – vorher geht die Federung nicht. Stellt sich die Frage: Was tun, wenn man leichter ist?

Viele weiße Schreibtische und -stühle in einem Pressezentrum bei einer Fußball-WM vor einigen Jahren, ein Beispielfoto

Schreibtische und -stühle des Grauens (hier im Pressezentrum bei einer Fußball-WM anno dazumal) Foto: picture-alliance/ dpa | Frank Leonhardt

Schon mein ganzes Leben lang wird mir gesagt, was falsch an mir ist. Ich bin zu dünn, zu laut, zu anstrengend. Zu egozentrisch.

Ich habe Infantile Cerebralparase, kurz ICP, das ist ein Schaden des Nervensystems, ausgelöst vermutlich durch Sauerstoffmangel bei der Geburt. Andere sitzen deswegen im Rollstuhl, ich habe ein Bein, das etwas kürzer, dünner und schwächer ist als das andere. Das scheint von außen nicht so schlimm. Ich hinke eben ein wenig beim Gehen, jedoch folgt aus dem scheinbar kleinen Gehfehler ein ganzer Rattenschwanz an Problemen: Ich brauche spezielle Schuhe, bin weniger belastbar und schmerzempfindlicher als andere, habe trotz Sport häufig Rückenschmerzen und wenn ich müde bin, stolpere ich und stürze. „Na und?“, sagen die Schlauberger, „Aufstehen, Krönchen richten, weiter geht’s!“

Ich bin aber nicht zwei, sondern 42 Jahre alt. Ich möchte nicht hinfallen, sondern Hilfsmittel haben, die sicherstellen, dass ich mit dem Körper, den ich nun mal habe und immer hatte, den ich mittlerweile mag und in dem ich mich wohlfühle, meinen Alltag, meine Arbeit und mein Leben selbständig organisiert kriege.

Alles auf Sächsisch

Letzten Dienstag sitze ich in meiner Küche und lausche zwei Handwerkern, die im Arbeitszimmer die neuen Beine meines Schreibtisches montieren.

„Gib mir mal den Flachwinkel!“ ruft der, der unter dem Tisch liegt. „Die Pladde is dodal vazogn.“ Einer macht die Ansagen. Der andere arbeitet. Alles auf Sächsisch.

Ich hab eine Tischplatte, Massivholz, unbehandelt, 25 Jahre alt. Bisher lag sie auf Böcken. Doch dann bekam ich solche Rückenschmerzen, dass ich echt nicht mehr weiterwusste. Ich musste aber einen Roman fertig schreiben. Meinen dritten.

„Kauf dir einen neuen Schreibtischstuhl“, riet mir meine Lektorin.

Ich rief einen Händler an. Wir unterhielten uns eine Weile. Ich erzählte ihm, ich hätte eine Gehbehinderung, sei Schriftstellerin und müsse wirklich viel am Schreibtisch sitzen.

„Entschuldigen Sie“, unterbrach er mich plötzlich. „Darf ich mal fragen, wie schwer Sie sind.“

„Keine Ahnung“, erwiderte ich und schätzte: „Irgendwas unter 60 Kilo.“

„Ha“, rief er, „dann können wir gleich aufhören zu reden. Unsere Stühle funktionieren überhaupt erst ab einem Gewicht von 70 Kilo. Vorher aktiviert sich die Federung nicht.“

Der Klamottenindustrie gefällt das

Ich bin zugegeben nicht besonders schwer. Das ist vor allem genetisch bedingt. Die Streisands sind entweder lang und schmal oder klein und kräftig. Ich gehöre zur ersten Sorte.

Der Klamottenindustrie gefällt das. Mit Konfektionsgröße 36 kann ich in jeden Laden gehen und alles anziehen. Die Mehrheit der Frauen in Deutschland kann das nicht. Die häufigste Kleidergröße ist nämlich 42 und das wird von der Modeindustrie schon als XL bezeichnet: zu groß. Nun könnte man denken, vielleicht ist die Industrie abseits der Mode einfach weniger sexistisch und nur behindertenfeindlich. Aber ich befürchte, es ist einfach wie überall: Man muss ein Mann sein. Ohne Behinderung. Männer können sich auf jeden Stuhl setzen und alles anziehen.

Ich habe dann statt des Schreibtischstuhls die Tischbeine genommen. Wenn ich schon selbst keine neuen kriegen kann, soll mein Tisch welche haben. Elektrische. Zum Hoch- und Runterfahren. Per Knopfdruck.

„Und wieviel darf ich da draufstellen?“, wollte ich wissen. Ich brauche die Fläche nämlich hauptsächlich, um Wände aus Büchertürmen zu stapeln.

„Achtzig Kilo“, sagte der nette Verkäufer. „Da können Sie mit ihrem Computer und all ihren Büchern Fahrstuhl fahren.“ Das hat mich überzeugt.

Der Roman ist längst abgegeben, aber der nächste kommt bestimmt. Vielleicht schreib ich was über eine Frau mit Behinderung. Obwohl meine Lektorin schon meinte, sowas verkaufe sich nicht.

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Schriftstellerin, zuletzt "Hätt' ich ein Kind" bei Ullstein, Kolumnen montags bei Radio Eins.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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