Studie zum NS-Raub jüdischer Vermögen: Routine der Demütigung

Historiker arbeiten den Raub an der jüdischen Bevölkerung zur NS-Zeit exemplarisch für Schwaben auf. Auch nach dem Krieg gab es Kontinuitäten.

Zwei Männer der SA stehen vor einem Herrenbekleidungsgeschäft, hinter ihnen steht ein Schild: kauft nicht bei Juden

Die SA steht am 1. April 1933 vor dem Geschäft des Herrenausstatters Gustav Lion in Tübingen Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg

Die Kreisdienststelle Münsingen der Deutschen Arbeitsfront meldet sich im Oktober 1942 beim Oberfinanzdirektor in Stuttgart. Sie hätten gern ein Klavier aus den beschlagnahmten Judenvermögen. Der Vertreter der Arbeitsfront weist auch gleich darauf hin, wer ein solches Instrument besessen hat: „die Jüdin Levi“. Doch mit Klavieren kann der Oberfinanzdirektor nicht mehr dienen. Auch nicht mit Radios, wie er in einem Antwortschreiben erklärt. Die seien nie angefallen, „da den Juden das Rundfunkhören verboten war“.

Dafür versorgt der oberste Finanzbeamte des Landes Württemberg-Hohenzollern mitten im Krieg Behörden und Parteistellen, Beamtenerholungsheime üppig mit Geschirr, Bildern, Teppichen und Möbeln aller Art. Andere Haushaltsgegenstände und Immobilien bringen die Finanzämter bei Versteigerungen unter das Volk.

Die Regionalstudie „Ausgrenzung – Raub – Vernichtung“, die der Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb zusammen mit dem baden-württembergischen Landesarchiv und der Landeszentrale für politische Bildung zusammengestellt hat, ist ein Dokument schamloser Bereicherung des Nazistaats.

Auf fast 600 Seiten dokumentieren 30 meist ehrenamtlich arbeitende Historiker, am Beispiel Schwaben und Hohenlohe, wie sich das Naziregime und das einfache Volk systematisch des jüdischen Vermögens von Deportierten und Geflohenen bemächtigt und es zu Geld gemacht hat.

Die Ausstellung „Ausgrenzung – Raub – Vernichtung: NS-Akteure und ‚Volksgemeinschaft‘ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933–1945“ ist seit 7. November in der ehemaligen Synagoge Haigerloch zu sehen

Bereits mit der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 hatte die systematische Plünderung jüdischer Vermögen von Amts wegen begonnen, denn der NS-Staat brauchte dringend Mittel zur Vorbereitung des Kriegs.

Zur „Judenvermögensabgabe“ verpflichtet

Juden wurden nun durch einen Erlass, unmittelbar nach den landesweit von den Nazis organisierten Übergriffen, zu einer sogenannten „Judenvermögensabgabe“ verpflichtet, die das Regime als „Sühnezahlung“ für den angeblich von den Juden begangenen Schaden am deutschen Volk rechtfertigte. Jeder jüdische Bürger, der mehr als 5.000 Reichsmark besaß, musste zunächst 20 Prozent und später noch einmal 5 Prozent seiner Habe an das Reich abführen.

Mit der beschlossenen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Reich und den besetzten Gebieten ab 1941 ging es mit der „Aktion 3“ darum, das Vermögen der deportierten Juden möglichst gewinnbringend unter die „Volksgemeinschaft“ zu bringen. Ein Akt staatlicher Gewalt, bei dem Nachbarn mitplündern durften.

In der Schwarzwald-Rundschau erschienen ab 1942 fünf Anzeigen, in denen Versteigerungen von „Haushaltungsgegenständen aller Art, gegen Barzahlungen“ angekündigt wurden. Oft in den Häusern der Deportierten selbst. Sogar die Nachbarn nahmen an solchen Versteigerungen offenbar ohne moralische Bedenken teil. Im Nachbarort Baisingen benötigt man sechs Tage, um den Hausrat einer jüdischen Familie zu verteilen, im Horber Ortsteil Rexingen sind es neun Tage.

Die Dinge beim Namen nennen

Kern der historischen Untersuchung sind die gut erhaltenen Akten des Finanzamts Horb am Neckar, die der Vorsitzende des Gedenkstättenverbunds, Heinz Högerle, entdeckt hat. Bei einer Ausstellung der ersten Ergebnisse in Horb vor einigen Jahren gab es große Resonanz, berichtet Högerle. Die Bürger wollten wissen, ob da auch ihr eigener Familienname in den Akten zu finden ist. Daraufhin wandte sich der Historiker an das Land, um daraus einen Dokumentationsband und eine größere Ausstellung zu machen.

2019 ist der Band erschienen, und durch Corona verzögert wird seit diesem Jahr nun auch eine Wanderausstellung auf den Weg geschickt. Es ist eine Arbeit, die die Dinge beim Namen nennt und Nazibegriffe wie „Reichskristallnacht“ oder „III. Reich“ vermeidet oder als solche kennzeichnet.

Das Ausmaß, in dem sich Behörden und Bürger am Vermögen der ausgereisten und deportierten Juden in einer mittelgroßen Stadt wie Horb bereichern, lässt für Högerle keine Ausreden zu: „Die Akten zeigen, dass breite Teile der Bevölkerung davon ausgingen dass jüdisches Leben in Deutschland endgültig zu Ende sei und dass man sich ohne Gefahr am Raub beteiligen könne.“ So fand noch am 13. April 1945, keinen Monat vor dem Kriegsende, eine größere Verkaufsaktion von jüdischem Vermögen für die Angestellten des Horber Finanzamts statt.

Zeitungsanzeige, die auf den Totalausverkauf hinweist

Im Jahr 1933 zur Geschäftsaufgabe gezwungen: Anzeige des Herren­ausstatters Gustav Lion Foto: Stadtarchiv Tübingen

Der Band zeigt neben den Erkenntnissen aus den Horber Finanzakten aber auch an eindrücklichen Beispielen aus dem Südwesten auf, wie jüdische Geschäftsleute zuerst ausgegrenzt, dann um ihr Vermögen gebracht wurden. Etwa die sogenannte Arisierung des Schramberger Lichtspielhauses, das zum Imperium des Filmunternehmers Carl Lämmle gehörte. Oder der Raub des Ulmer Schuhhauses Pallas, das der Familie der Journalistin Amelie Fried gehörte, die darüber ein Buch geschrieben hat.

„Kurze Phase der Panik“
Roter Aktendeckel mit der Beschriftung: Judenvermögensakten

Die Akten des Finanzamts Horb bilden den Kern der Studie „Ausgrenzug – Raub – Verbrechen“ Foto: Staatsarchiv Ludwigsburg

Und er zeigt auch, wie schwer es den Überlebenden oder Erben nach dem Krieg gemacht wurde, ihr Eigentum zurückzuerhalten oder entschädigt zu werden. Denn nach dem Krieg waren es zum Teil genau jene Beamten, die die Rückgabe der Vermögenswerte – oft mit entsprechend geringem Elan – organisieren mussten, die zuvor den Raub organisiert und zum Teil auch davon profitiert hatten.

Autor Heinz Högerle konstatiert eine „kurze Phase der Panik“, als die Opfer des Gewaltregimes aus den Lagern zurückkommen und die Besatzungstruppen klar machen, dass sie erwarten, dass diese Menschen entschädigt werden. Aber bald habe sich in den deutschen Behörden „eine neue Routine in der Beweisunterdrückung und der Demütigung von Shoah-Überlebenden“ entwickelt, schreibt er. In vielen Fällen müssen Angehörige Jahre auf die Bearbeitung warten, um dann keine Entschädigung zu erhalten.

Mancher greift deshalb lieber zur Eigeninitiative. Der Vieh-händler Harry Kahn aus Baisingen hatte Theresienstadt überlebt und kehrte 1945 in seinen Heimatort zurück, um sein altes Geschäft wieder aufzubauen. Gegenüber dem Finanzamt Horb fordert er „zwei komplette Federbetten mit Kissen“ zurück. Zuerst bekommt er keine Antwort, dann wird er an andere Finanzämter verwiesen.

Schließlich holt sich Kahn seine Sachen selbst zurück. Bei Fanny Huber aus dem nahen Haigerloch. Sie hatte die gesamte Schlafzimmereinrichtung beim Finanzamt Horb für 600 Reichsmark erworben. In einem Brief bittet sie beim Finanzamt Horb um Erstattung des Schadens. Kahn habe gesagt, „das Finanzamt soll das Geld zurückgeben, es hat es auch eingenommen“.

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