Sexualisierte Gewalt anzeigen: Der doppelte Schmerz

Wer sexualisierte Gewalt anzeigt, stößt bei der Polizei oft auf Ignoranz. In Frankreich organisieren sich Frauen unter dem Hashtag #DoublePeine.

Eine Demonstrantin in der Menge

Zehntausende Fe­mi­nis­t:in­nen gingen am vergangenen Wochenende in Paris auf die Straße Foto: Katia Zhdanova/Hans Lucas/Afp

Die Polizisten fragten mich, ob ich es nicht auch gewollt hätte.“

„Man sagte mir, wer solch ein kurzes Kleid trägt, solle sich nicht wundern.“

„Ich solle mich nicht so anstellen, das passiere nun einmal.“

Unter dem Hashtag #DoublePeine berichten Tausende Frauen in Frankreich auf einer eigens gegründeten Website von Demütigungen beim Erstatten einer Anzeige wegen sexualisierter Gewalt. Es ist eine scheinbar unendliche Aneinanderreihung von Erniedrigungen, die einem beim Scrol­len auf dem Bildschirm entgegenrollt. Ausgelöst wurde das Ganze von der feministischen Influencerin Anna Toumazoff, die schon in der Vergangenheit Onlinekampagnen gegen Belästigung und Sexismus initiiert hatte. Im September veröffentlichte sie in einem ­Thread die traumatischen Erfahrungen einer 19-Jährigen auf einer Polizeiwache in Montpellier, die eine Vergewaltigung anzeigen wollte. Frauen aus dem ganzen Land begannen daraufhin, ihre Erfahrungen zu teilen und gingen auf den Straßen protestieren.

Was sie alle eint, ist der #Double­Peine, zu Deutsch: der doppelte Schmerz, das doppelte Leid, die doppelte Strafe. Die Herabsetzung durch die Be­am­t:in­nen fühlt sich für die Betroffenen so an, als würden sie die Gewalt der Tat erneut erleben. Die Be­am­t:in­nen hätten unsensibel reagiert, sie ausgelacht, die Tat verharmlost oder gar den Opfern selbst die Schuld an der Vergewaltigung gegeben.

Nach wochenlangem Protest kündigte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin an, dass Be­am­t:in­nen in Zukunft die Opfer sexualisierter oder häuslicher Gewalt auch in einem privaten Umfeld für das Aufnehmen der Anzeige aufsuchen können, wenn diese es wünschen. So soll ihnen die Umgebung der Polizeistation erspart werden.

Zu Protokoll

Anders als in Deutschland, wo man über die Online-Wachen der Bundesländer auch virtuell Anzeige erstatten kann, musste man in Frankreich bisher eines der Polizeikommissariate aufsuchen. Das Angebot der Online-Wachen soll die Hemmschwelle senken, überhaupt anzuzeigen. Ihre Aussage müssen die Betroffenen anschließend dennoch bei der Polizeistation zu Protokoll geben.

In Deutschland gab es bisher keine vergleichbaren Proteste wie in Frankreich, obwohl auch hierzulande eklatante Mängel bei der Nachverfolgung von Sexualdelikten existieren. Jede dritte Frau in Deutschland ist von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen, doch nur etwa jedes zehnte Opfer erstattet laut Studien Anzeige. Was hält sie davon ab?

Die Herabsetzung durch die Be­am­t:in­nen fühlt sich für die Betroffenen so an, als würden sie die Tat erneut erleben

Auf eine Umfrage der tazin den sozialen Medien nach Erfahrungen bei der Anzeigeerstattung meldeten sich Dutzende Betroffene von sexualisierter Gewalt. Sie erzählen davon, wie Be­am­t:in­nen sie nicht ernst genommen, sie ausgelacht, beschimpft und weggeschickt hätten. Ihnen wurde gesagt, die Polizei hätte genug mit Morden, mit „richtigen Fällen“ zu tun. Nicht alle ihre Geschichten können in diesem Text erzählt werden, doch die schiere Menge der Rückmeldungen weist auf ein ernstzunehmendes Problem hin.

Eine der Frauen ist Ophelia, sie hat unter der Bedingung mit der taz gesprochen, dass ihre Anonymität gewahrt bleibt. Im Februar 2019 geht Ophelia in einem Club in Berlin feiern. In der Garderobe ist sie mit Freunden zusammen, als sich ein Mann direkt neben sie setzt. Sie kennt ihn flüchtig, hat ihn vorher schon ein paar Mal im Club gesehen. Er beginnt, Ophelias Oberschenkel zu streicheln, berührt sie am Knie. Ophelia stößt seine Hand weg. Er hört nicht auf. „Als es mir zu viel wurde, bin ich zur Frauentoilette gegangen und habe mich eingeschlossen. Das war eigentlich immer ein Safe Space für mich“, sagt Ophelia. Der Mann folgt ihr, ohne dass Ophelia es merkt. Als sie die Tür der Klokabine öffnet, blockiert er den Eingang. Er vergewaltigt sie.

Ophelias Geschichte

Erst Wochen später kann die Architekturstudentin mit einer Freundin darüber sprechen, was passiert ist. Und nur mit der Unterstützung dieser Freundin schafft sie es, im März 2020 zur Polizei zu gehen. Sie erstattet die Anzeige online und wird daraufhin zur Wache gebeten, um ihre Aussage zu Protokoll zu geben.

Ein männlicher Beamter führt sie in einen gesonderten Raum. Ophelia fühlt sich nicht wohl, sie hätte lieber mit einer Frau gesprochen. Auf ihre Rückfrage wird geantwortet, die Station sei unterbesetzt. Rund zweieinhalb Stunden wird die damals 21-Jährige befragt, soll jedes intime Detail berichten. Sie wisse, dass diese ausführlichen Schilderungen nötig seien, um das Geschehene rückverfolgen zu können. Jedoch habe man sie dabei mit Vorwürfen überhäuft, sagt Ophelia. „Ich hatte das Gefühl, es wird immer nur nach meinem Verhalten gefragt. Dabei hat er doch eine Straftat begangen“, sagt sie. Der Polizist habe gesagt, es sei doch normal, dass in diesem Club „solche Dinge“ passierten, und was denn ihre Absichten gewesen seien. Dort feiern zu gehen, sei doch praktisch ein Einverständnis. „Und dann diese Frage: ‚Was hatten Sie in der Nacht an?‘ – als hätte meine Kleidung dazu beigetragen, als wäre es meine Schuld“, sagt Ophelia.

Christina Clemm ist Fachanwältin für Familien- und Strafrecht in Berlin. Sie vertritt häufig Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Sie sagt: „Es gibt zahlreiche Gründe, warum Betroffene nicht zur Polizei gehen: Sie haben Angst vor Repressalien durch die Täter, die Länge des Verfahrens und die Reaktion ihres Umfelds, wenn sie von der Tat berichten. Am liebsten möchten Sie das Geschehene so schnell wie möglich vergessen. Sie fürchten, ihnen könne nicht geglaubt werden. Einige haben bereits schlechte Erfahrungen, wie etwa Rassismuserfahrungen, mit der Polizei gemacht.“

Im Jahr 2020 gab es in Deutschland 9.872 Opfer von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellem Übergriff, die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Je näher sich Täter und Opfer stehen, desto unwahrscheinlicher ist die Anzeige – dabei stammen die Täter, meist Männer, im Regelfall aus dem Nahbereich. Ist der Täter unbekannt, liegt die Wahrscheinlichkeit einer Anzeige bei etwa 50 Prozent. Kommt der Täter aus dem Freundeskreis, geht nur noch etwa jedes vierte Opfer zur Polizei. Wenn der Täter zur Familie gehört, sinkt die Anzeigebereitschaft weiter auf nur noch etwa 18 Prozent. Viele Betroffene stehen nach dem Überleben von sexualisierter Gewalt unter Schock. Sie brauchen teilweise Wochen, Monate, Jahre, bis sie realisieren, was passiert ist und sie darüber sprechen können. Dann ist es in der Regel schon zu spät, Beweise wie Verletzungen am Körper zu dokumentieren. Die Hemmschwelle, zur Polizei zu gehen, ist hoch. Die Scham ist groß, die Angst, dass einem nicht geglaubt wird, noch größer. „Victim Blaming“, die Unterstellung, das Opfer würde lügen, um von der Anschuldigung zu profitieren, ist keine Seltenheit.

Retraumatisiert bei Anzeige

Umso wichtiger also ein sensibler Umgang mit den Betroffenen. Doch auf Anfrage der taz antwortet die Polizei Berlin, es gebe noch keine spezielle Fortbildung für die Be­am­t:in­nen des Kriminaldauerdienstes zum Umgang mit Opfern von sexualisierter Gewalt. Mit jenen Be­am­t:in­nen haben Betroffene, die Anzeige erstatten wollen, den ersten Kontakt.

Das zuständige Dezernat für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung hat ein „Merkblatt“ für den richtigen Umgang eingeführt. „Menschen dürfen nicht durch das Erstatten der Anzeige retraumatisiert werden. Das muss unbedingt sichergestellt werden“, sagt Strafanwältin Christina Clemm. Es gebe zu wenig geschultes Personal und zu wenig öffentliche Aufklärungsarbeit. Viele Betroffene würden überhaupt nicht ihre rechtlichen Möglichkeiten kennen oder könnten nicht anzeigen, weil sie keine Unterstützung bekommen. Um einer Retraumatisierung vorzubeugen, braucht es eine ausreichende psychologische Betreuung der Opfer, mehr weibliche Beamtinnen als Ansprechpartnerinnen für betroffene Frauen und Maßnahmen wie eine Videoaufnahme der Aussage, damit die Opfer das Erlebte nicht wieder und wieder erzählen und durchleben müssen.

Bislang sind die Verfahren oft langwierig und zermürbend, viele enden ohne ein Urteil – auch nach der Reform des Sexualstrafrechts von 2016. „Davor schrecken viele Betroffene zurück“, sagt Anwältin Christina Clemm. Viele Verfahren scheitern an mangelnden Beweisen, da zum Zeitpunkt der Tat meist keine Zeugen anwesend sind. Am Ende steht Aussage gegen Aussage und der Täter behauptet, er habe das „Nein“ nicht gehört oder der Sex sei seinem Eindruck nach einvernehmlich gewesen.

Ophelia hatte Glück, ihr Fall wurde vor Gericht gebracht. Die Freundin, der Ophelia sich anvertraute, sagt als Zeugin aus. Der Täter streitet alles ab. Im August 2021 steht das Urteil: zwei Jahre auf Bewährung. Dass er zum Tatzeitpunkt unter Drogen stand, mindert die Strafe. Den Club darf er lebenslang nicht mehr betreten. „Das war wichtig für mich, so konnte ich mir immerhin diesen Raum zurückerobern“, sagt Ophelia.

Auch Ophelia kennt den #DoublePeine, den doppelten Schmerz, der die Frauen in Frankreich auf die Straßen bringt: Von der Anzeige bis zur Verurteilung vergingen insgesamt eineinhalb Jahre. Doch Ophelia würde es wieder tun. Zur Polizei zu gehen habe sich gelohnt. Doch sie wünschte, man wäre ihr dort anders begegnet: „Ich hätte das Gefühl von Sicherheit gebraucht anstelle von vorwurfsvollen Beamten, die mich nicht ernst nehmen“, sagt sie. Mit ihrer Anzeige möchte Ophelia auch anderen Mut machen, nicht weiter zu schweigen. „Die Gewalt gegen Frauen muss endlich aufhören.“

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