Der Hausbesuch: Ein Leben in Rot

Vera Hemm stammt aus einer kommunistischen Familie in Konstanz. Heute, mit 86, will sie nicht mehr so streng mit sich sein.

Vera Hamm aus Konstanz

Die „Rote Vera“. Selbst ein Schlaganfall kann sie nicht beeindrucken Foto: Patrick Pfeiffer

Schon an der Seite ihrer Mutter kämpfte Vera Hemm für die Rechte von Arbeiterinnen, Arbeitern und Frauen. Seit 1971 ist sie Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Für eine sture Kommunistin hat sie sich nie gehalten.

Draußen: „Damals wohnten hier fast nur Gemüsebauern. Sie hatten ihre Gärten um das Haus herum“, erzählt Vera Hemm auf ihrem Balkon in der Gartenstraße in Konstanz. Das achtstöckige Wohngebäude, in dem sie seit 37 Jahren lebt, ist 1970 entstanden. Heute gibt es im Stadtteil Paradies vor allem Einfamilienhäuser, die auf den ehemaligen Grünflächen errichtet worden sind. „Alles ist bebaut. Da hat nichts mehr Platz“, sagt Hemm. Nur am Rande der Straße, da steht noch ein alter Haselnussbaum.

Drinnen: Hemm hat die Vorhänge im Wohnzimmer weit geöffnet, damit die Sonnenstrahlen jeden Winkel erreichen. Die Möbelstücke, die Bilder und die Blumentöpfe befinden sich in einem Spiel aus Licht und Schatten. Das gefällt Hemm. An einem kleinen runden Tisch tippt sie auf einem alten dicken Laptop ihre Texte. Es ist ein Wunder, dass dieses Gerät noch funktioniert.

Lenin zu Hause: In einem Bücherregal stehen Bände marxistischer Philosophie, politischer Ökonomie, die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und ausgewählte Werke von Wladimir Lenin. Seine Büste aus Bronze steht im selben Regal. Hemm hat eine weiße, fein gehäkelte Tischdecke unter sie gelegt.

Kommunistin: Hemm ist 1935 in Konstanz geboren. In eine kommunistische Familie. „Im,Dritten Reich' waren meine Eltern Persona ingrata.“ Hemm ist auch Kommunistin. Eine überzeugte? Sie lacht. Warum lachen Sie? „Weil ich keine sture Kommunistin bin.“ Und woran kann man das erkennen? „Ich bin in der Theorie nicht sattelfest. Ich kann weder Lenin noch Marx zitieren“, sagt sie. „Ich habe die Theorie aber verinnerlicht durch meine Eltern.“

Die Mutter: „Meine Mutter war eine bekannte Kommunistin“, sagt Hemm. 648 Seiten hat sie in einem Buch über sich und ihre Mutter Johanna Hemm geschrieben: „Im Zeichen der roten Nelke. Mutter und Tochter – zwei politisch engagierte Frauen im 20. Jahrhundert“. Beide waren Stadträtinnen, Gewerkschafterinnen und Kämpferinnen für Frauenrechte. Ein Bild ihrer Mutter hat sie gerahmt und an die Wand gehängt. Auf einem Foto daneben ist auch ihre eigene Namensgeberin zu erkennen – die russische Revolutionärin Vera Figner.

Für die kleinen Leute: „Für uns war die soziale Schiene was Wichtiges“, sagt Hemm. Dafür engagiere sie sich immer noch beim DGB in Konstanz. 20 Jahre war sie Vorsitzende im DGB-Frauenausschuss. Als Gründungsmitglied sitzt sie im Vorstand des Vereins pro familia. „In meinem ganzen Leben habe ich mich dafür eingesetzt, dass die Rechte der kleinen Leute mehr gestärkt werden“, erklärt sie und macht klar: „Die Großen müssen was abgeben – ganz einfach.“ Wer sind die Großen? „Die Reichen, die Millionäre, die Fabrikbesitzer.“

Enteignung: „Das Wort Enteignung kann man schnell falsch in den Mund nehmen“, erklärt sie. Wer die Phrase „Enteignung der Reichen“ in den Mund nehme, würde sofort zusammen mit den Roten und Linken in eine Schublade gesteckt.

DKP und die Linke: Seit 1971 ist sie Mitglied in der DKP. „Wir sind zu wenig Kom­mu­nis­t*in­nen in Konstanz. Und die DKP ist eine so kleine Partei, die sehr wenig bewegen konnte“, sagt sie. Deswegen setzte sie für Veränderungen auf die Linke und engagierte sich für sie im Konstanzer Gemeinderat. Ob die Abschaffung von Ausbeutung jemals was werde, da ist sie skeptisch. „Dazu fehlen die Massen.“ Auch die Bundestagswahl im September habe deutlich gezeigt, dass die Linken keine große Unterstützung in der Bevölkerung haben. „Davon sind wir in der Realität weit entfernt.“

Chemielaborantin: Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung als Chemielaborantin bei Degussa in Konstanz. Sie prüfte Medikamente, „ob auch drin war, was drin sein sollte“. Dann ging sie für ein paar Jahre nach Mainz, „damit ich mir mal in der Ferne Luft um die Nase wehen lasse als Vorbereitung für das ernste Leben“. Dort arbeitete sie in einem Haut- und Haarlabor des Unternehmens Blendax. Aber lange hielt sie es nicht aus. Sie ging wieder zurück nach Konstanz und arbeitete bis zu ihrer Rente im Pharmaunternehmen Byk Gulden. Heute gehört es zum japanischen Unternehmen Takeda, einem der führenden Arzneimittelhersteller weltweit.

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Traum vom Schwimmen: Ihren Job im Labor vermisst Hemm nicht. Sie habe genug gearbeitet. Vor fast drei Jahren hatte sie einen Schlaganfall. Jetzt hat sie einen Rollator, mit dem fühlt sie sich sicher. „Es wäre schön, wenn ich mehr unternehmen könnte. Aber das traue ich mich nicht“, sagt sie. Deswegen verkneift sie sich das Schwimmen im See, obwohl sie viel dafür geben würde. Zu den Kundgebungen der Linken hingegen geht sie immer noch.

Der rote Knopf: Dafür badet sie zweimal die Woche. Für genau 20 Minuten. Seit dem Schlaganfall 2018 lässt sie sich vom ambulanten Pflege- und Betreuungsdienst der Malteser unterstützen. Jeden Morgen kommt außerdem jemand vorbei, um ihr die Strümpfe anzuziehen. Dafür bekommt die jeweilige Person immer ein Stück Schokolade. Wer beim Baden hilft, bekommt die doppelte Menge. Doch für ein privates Gespräch gebe es leider nie Zeit. Vera Hemm trägt auch einen roten Knopf am Armband – für schnelle Hilfe im Notfall.

Sorge: „Vor allem habe ich Angst, dass ich lange liegen muss und nichts mehr machen kann. Oder dass ich auf andere angewiesen bleibe. Das will ich nicht“, sagt sie. „Ich will auch nicht in ein Heim gehen.“ Nicht weit von ihrer Wohnung entfernt gibt es ein Altenheim. Sie gehe ab und zu dahin. Ob sie das macht, um sich doch ans Heim zu gewöhnen? „Nein, weil ich dort günstig essen kann. Ich habe sowieso immer wenig Zeit in der Küche verbracht.“

Vorgesorgt: Sie habe alles für ihren Tod geregelt. Sie wird verbrannt. „Weil ich niemanden habe.“ Ihre Urne komme hinter eine Wandtafel auf dem Friedhof, wo eine ihrer Freundinnen ruht. „Die Gräber meiner Eltern gibt es nicht mehr.“

Rote Vera: Eine eigene Familie zu gründen habe nicht geklappt. „Es hätte sich ergeben können“, sagt sie. „Ich habe für den einen oder anderen jungen Mann geschwärmt.“ Es war für sie wichtig, dass die Männer ähnlich denken wie sie. Doch keiner wollte sich entscheiden, mit ihr das ganze Leben zu verbringen. „Ich habe den Übernamen rote Vera“, sagt sie. „Wenn man rot war, ist das nicht so gut angekommen.“ – „Es ist, wie es ist. Ich bin allein.“

Kinder: Auch einen Kinderwunsch hatte sie. Trotz ihrer Arbeit im Labor und den politischen Aktivitäten hatte sie immer Zeit für Kinder gefunden. Sie habe die Kinder von ihren Bekannten gehütet. Sie spielte mit ihnen und las ihnen vor. „Meine Mutter hätte gerne Enkelkinder gehabt. Sie hat mir aber nie etwas davon gesagt. Das hätte mir wahrscheinlich wehgetan“, sagt sie. „Ich hätte auch gerne Kinder und Enkelkinder gehabt.“ Doch sie kenne viele ältere Menschen, deren Kinder den Kontakt abgebrochen haben und weggegangen sind. „Ich habe Freunde. Und das ist schön.“

Neue Freiheiten: „Als Linke musst du immer konsequent sein“, sagt sie. „Ich war streng mit mir.“ Nun will sie nicht mehr so leben und formuliert neue Regeln für sich. Eine lautet: Ich habe das Recht, meine Meinung zu ändern. „Ich erlaube mir, mich als linke Frau nicht mehr rechtfertigen zu müssen. Ich erlaube mir, einfach unlogisch zu sein.“ Erst jetzt, mit 86 Jahren.

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