Das Rauschen des Meeres in sich selbst entdecken

Jens Sparschuh interessiert sich für Stubenhocker auf großer Gedankenreise wie Arno Schmidt oder Karl May. „Die Matrosen der Schweiz“ heißt denn auch sein neues Buch

Sich als Matrose verkleiden und ans Meer träumen – der Blick dieses Ballbesuchers passt gut zu Jens Sparschuhs neuem Buch Foto: Guy Le Querrec/Magnum Photos/Agentur Focus

Von Fokke Joel

Jens Sparschuh ist ein Meister des hintergründigen Humors. „Die Matrosen der Schweiz. Ein Logbuch“ heißt sein neues Buch mit kurzen, verstreut erschienen Texten. Es sind Matrosen, so in der titelgebenden Geschichte, die davon träumen, „ihr bisheriges, zufälliges Leben kopfschüttelnd abzuwerfen, es einfach hinter sich zu lassen“, ihre Sachen zu packen und „in den nächstbesten pünktlichen Zug der Schweizer Bundesbahn zu steigen“, um ans Meer zu fahren. Doch es wird nichts aus dieser Reise, es kommt immer wieder etwas dazwischen. Ein Traum, der allerdings nicht fruchtlos bleibt, sondern immer wieder neue Geschichten gebiert. Geschichten, die davon erzählen, wie der Sprung aus dem aufgezwungenen, uneigentlichen Leben nicht gelingt. Wenn am Ende dann die Erkenntnis steht, dass das Meer, „ohne dass sie es geahnt hätten … nirgendwo anders als in ihnen“ selbst rauscht, dann gilt das nicht nur für die Matrosen der Schweiz.

Es sind überwiegend Stubenhocker, für die sich Jens Sparschuh interessiert. Arno Schmidt zum Beispiel, der sich im niedersächsischen Bargfeld niederließ und – zum Leidwesen seiner Frau Alice – von dort nicht mehr wegzukriegen war. Reale Reisen, die er mehr gezwungen als freiwillig unternahm, waren für alle Beteiligten anstrengend oder eine Katastrophe. Aber wie aufregend seine Reiseberichte durch Sprache, Bücher und Zettelkästen! Sparschuh hat mehrmals Hörbücher Arno Schmidts besprochen; in dem über „KAFF auch Mare Crisium“ weist er darauf hin, wie gut dieses Medium einem gerade seine späten, durch Zeichensprache bereicherten Texte näherbringt, die ja als Schrift vor sprachlichen Stolpersteinen nur so wimmeln.

Jens Sparschuh: „Die Matrosen der Schweiz“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 192 Seiten, 20 Euro

Aber auch sonst sind die von Anlässen getriebenen Gedankensplitter Sparschuhs immer mit Gewinn zu lesen. Ob es sich um Erinnerungen an Peter Hacks, Irmtraud Morgner und Karl Mickel, Hommagen an Volker Braun und Irina Liebmann handelt oder der Bericht anlässlich von Uwe Timms Roman über die utopische Sekte der Ikarier, die er mit Erinnerungen an seine Zeit als Writer in Residenz am Grinnell College in den USA verknüpft: Irgendetwas ist in jedem Text überraschend, hat man als Leser so noch nicht gelesen. Manchmal kommt Sparschuh der spießigen Seite des alpenländischen Seemanns gefährlich nahe. Zum Beispiel da, wo er „Kunst kommt von Können“ verteidigt, jenen Spruch gegen die „moderne“ Kunst. Aber Sparschuh ist Dialektiker, stellt das „Können“ in ein Spannungsverhältnis zum „Müssen“ und zieht den Gedanken damit vom gemütlichen, dekorativ eingerichteten Wohnzimmer in die kalte raue Luft des Lebens.

Karl May, von dem Sparschuh ein Hörbuch mit alten Lesungen aus den 1950er Jahren bespricht, ist vielleicht einer der berühmtesten Schweizer Matrosen. Jahrelang reiste er nicht nur im Kopf durch Amerika, sondern behauptete auch noch, dort gewesen zu sein. Warlam Schalamow dagegen wurde brutal zu dieser Art des Reisens gezwungen. Während der 17 Jahre im Gulag, von denen er in den „Erzählungen aus Kolyma“ berichtet, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als im Kopf seine Freiheit zu finden. Hier kommen dem Leser die Russischkenntnisse Sparschuhs zugute. An Gabriele Leupolds Übersetzung Schalamows lobt er, dass sie „bestimmte Eigenheiten des russischen Satzbaus“ in ihrer Übertragung Schalamows „wachhält“, ohne in den Fehler zu verfallen, in einer wortwörtlichen Übersetzung einfach nur einen Text mit deutschen Worten und russischem Satzbau zu verfassen.

Irgendetwas ist in jedem der Texte überraschend und hat man als Leser so noch nicht gelesen

Viele der Dichter- und Schriftstellerkollegen, über die Sparschuh schreibt, haben wie er in der DDR gelebt. „Die DDR ist das Land, darin ich leben will, aber muss“, zitiert er die „trotzige Selbstbehauptung“ des Lyrikers Richard Leising. „Keine Chance aber, dort je anzukommen, wenn man nie weggehen konnte. Das Eigene wurde einem fremd. Für den von seiner Natur her zur Schizophrenie, also dem Spaltungsbewusstsein, neigenden Dichter, ist das eine solide Arbeitsgrundlage. Wer von uns träumte nicht davon, ‚Ich‘ zu sagen – und ein ganz anderer zu sein.“

Hier, auf der rauen See des Lebens, wurde es für die Matrosen der Schweiz dann allerdings prekär: „Für die meisten von uns aber war dieser Zustand ein ernsthafter Grund, unglücklich zu sein.“