Filmdrama „Große Freiheit“ im Kino: Fellatio als Vergehen

Sebastian Meises Kinofilm „Große Freiheit“ erzählt von Liebe unter Paragraph 175. Franz Rogowski spielt darin sehr eindrücklich.

Eine Filmszene, eine Person zündet ein Streichholz an.

Szene aus „Große Freiheit“: Hans Hoffmann (Franz Rogowski) im Einzelarrest Foto: Piffl

Ein Projektor rattert, auf der Leinwand sind Super-8-Aufnahmen zu sehen. Eine öffentliche Toilette, Männer kommen und gehen, mustern einander am Pissoir, einer folgt dem anderen in die Kabine. Das Bild ist merkwürdig eingeschränkt, wie der Blick durch ein Fenster in der Wand, der das Treiben beobachtet, aber immer nur einen kleinen Ausschnitt einfängt.

Ein Mann tritt nah heran und sieht direkt in die Kamera, unbewusst. Er betrachtet sich selbst in diesem Spiegel über dem Waschbecken, hinter dem die Polizeispitzel das Geschehen in der Bedürfnisanstalt aufzeichnen. „Widernatürliche Unzucht nach Paragraph 175“ heißt das vor Gericht, als Hans (Franz Rogowski) die Aufnahmen als Beweismittel gezeigt werden. Die Anklage listet die sexuellen Handlungen auf, „wechselseitige Onanie, Fellatio aktiv, Fellatio passiv, Coitus analis“. Antrag auf 24 Monate Haft. Hans schweigt, den Kopf gesenkt.

Es ist das Jahr 1968 und er kennt das schon. Sein ganzes Leben ist geprägt von Verfolgung und Eingesperrtsein, immer wieder. Er hat das Konzentrationslager und das Naziregime überlebt, von dort ging es 1945 nahtlos in Gefängnishaft über. Der 1872 eingeführte und von den Nazis ab 1935 verschärfte Paragraph 175, der männliche Homosexualität als Verbrechen mit hohen Haftstrafen ahndete, galt in der alten Bundesrepublik ungebrochen fort. Für Hans ist eine scheinheterosexuelle Existenz keine Option, und so riskiert er seine Freiheit, auch hinter Gittern, zum Teil im Dunkel einer Einzelarrestzelle.

In der Welt draußen, die im Film mitschwingt, aber nach den ersten Minuten nicht mehr zu sehen ist, hat Hans Liebhaber, verkehrt auf Klappen, wo er anonymen Sex mit Männern hat, auch nach dem KZ und abgesessener Haftstrafe, wird wieder erwischt und landet erneut im Gefängnis. Dort wissen Wächter wie Mithäftlinge Bescheid über sein „Vergehen“, die Zahl 175 prangt an der Zellentür, wie er früher den Rosa Winkel tragen musste.

„Große Freiheit“: Regie: Sebastian Meise. Mit Franz Rogowski, Georg Friedrich u. a. Österreich/Deutschland 2021, 116 Min.

Ein Aussätziger unter Mördern und anderen Schwerverbrechern, entsprechend wird er behandelt, im besten Fall gemieden. Er hat gelernt zu überleben, in der Welt draußen wie im Knast, er arrangiert sich, arbeitet in der Näherei und verdient sich so ein bisschen was für Tabak. Hie und da gibt es kurze Momente der Solidarität oder eine flüchtige Zärtlichkeit, stets in der Gefahr aufzufliegen. Er wird in eine Zelle mit einem verurteilten Mörder gesteckt, dem heterosexuellen Viktor (Georg Friedrich), der zunächst nur Abscheu für den „Perversen“ übrig hat. Ganz langsam entwickelt sich doch, über alle Differenzen hinweg, eine Art vorsichtiger Respekt und schließlich so etwas wie Freundschaft und Zuneigung. Rogowski und Friedrich spielen das sehr eindrücklich, gerade weil sie so zurückgenommen mit feinen Gesten agieren.

Der Film zeichnet ein eingesperrtes Leben, dem verwehrt ist, selbstbestimmt geführt zu werden

Der österreichische Filmemacher Sebastian Meise, der mit Thomas Reider auch das Drehbuch schrieb, gibt in seinem still-erschütternden Filmdrama „Große Freiheit“ anhand einer fiktiven Figur Zeugnis davon, wie die staatliche Verfolgung schwuler Männer im Westdeutschland der Nachkriegszeit systematisch Zehntausende Existenzen zerstörte. „Große Freiheit“ ist Meises Studium bei Michael Haneke an der Wiener Film­aka­de­mie anzusehen. Präzise recherchiert und konsequent zeichnet er ein eingesperrtes Leben, dem verwehrt ist, selbstbestimmt geführt zu werden.

Die als klaustrophobes Kammerspiel in dunkel-dreckigen Blau- und Grautönen inszenierte Welt der Gefängnismauern verlässt der Film bis kurz vor Ende nicht, auch wenn er auf drei Zeitebenen zwischen 1945, 1957 und 1968/69 hin und her springt, und fängt so am Beispiel von Hans bewegend ein, wie Generationen schwuler Männer in ständiger Angst und oft ihrer Freiheit beraubt leben mussten.

Erst mit der Teillegalisierung von 1969, die einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern über 21 nicht mehr unter Strafe stellte, war ein etwas freieres Leben möglich, wenn auch weiter unter ständiger Gefahr gesellschaftlicher Ächtung. Endgültig gestrichen wurde der Paragraph 175 im Jahr 1994, kurz nachdem die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität von ihrer Liste psychischer Krankheiten gestrichen hatte. Und erst seit 2017 zahlt der deutsche Staat Entschädigungen, die meisten Verfolgten sind längst tot. Es ist noch nicht lange her, trotz aller großen Freiheit heute. Meises Drama erinnert eindrücklich daran.

Seit seiner Weltpremiere in Cannes, wo der Film im Juli mit dem Jurypreis der Sektion „Un Certain Regard“ prämiert wurde, erhielt Sebastian Meises Film zahlreiche weitere Preise und geht für Österreich ins Oscar-Rennen. Bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises am 11. Dezember gehen zwei weitere Auszeichnungen an „Große Freiheit“: Crystel Fournier wird für die Kamera geehrt, Nils Petter Molvær und Peter Brötzmann für die beste Filmmusik.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.