„Eine neue moralische Farbe“

Die Philosophin Ina Schmidt ruft in ihrem Buch „Die Kraft der Verantwortung“ zur gemeinsamen Sorge für die Natur auf. Dafür müssten wir weg von der „metaphysischen Obdachlosigkeit“

Das Individuum ist in der Pandemie gerade permanent überfordert, sagt die Hamburger Buchautorin Ina Schmidt Foto: Claudia Höhne/ Körber-Stiftung

Interview Petra Schellen

taz: Frau Schmidt, haben Sie das Buch „Kraft der Verantwortung“ aus Wut über die verantwortungslose Gesellschaft verfasst?

Ina Schmidt: Nein. Es war eher der Wunsch nach Orientierung, nach Halt und innerem Verstehen. Das Gefühl, damit überfordert zu sein, dass ich – besonders in Corona-Zeiten – an so vielen Stellen zur Verantwortung aufgerufen werde. Darüber hinaus hat die Frage etwas mit unserer Vergänglichkeit zu tun, ein Thema, das mich ebenfalls sehr beschäftigt: Wie lässt sich in einem Leben, das sich so absurd und vermeintlich sinnlos dem Ende entgegen bewegt, verantwortungsvolles Handeln begründen? Warum tun wir das, warum ist es sinnvoll, kann man es auch lassen?

Kann man es denn lassen?

Nicht ganz, weil wir in vielen Situationen schlicht verantwortlich sind. Verantwortung bedeutet etymologisch ja die Antwort auf eine Frage, die mir das Leben stellt. Und da kann ich überlegen, ob ich überhaupt eine suchen und welche ich geben will.

Ist eine subjektiv als verantwortungsvoll definierte Handlung automatisch die „richtige“?

Nein. Es gibt immer verschiedene Formen „richtigen Handelns“. Da sind wir dann mitten in der Frage, ob es universelle Werte gibt oder ob das immer neu aus dem Kontext heraus definiert werden muss. Immanuel Kant zum Beispiel fordert in seinem Kategorischen Imperativ, dass das Gesetz des eigenen Handelns jederzeit auch allgemeingültiges Gesetz sein könne. Er hält keinerlei Lüge für gerechtfertigt. In der Lebenspraxis ist das aber oft anders. Wenn jemand in der NS-Zeit einen Juden versteckte, wird er das auf Nachfrage sicher nicht der Gestapo verraten haben. Und wenn es generell um Verantwortung geht, kann sich die Frage stellen, ob ich lieber einen Menschen rette und dafür fünf umkommen lasse oder umgekehrt. Noch allgemeiner gefragt: Ist es wichtiger, etwas zu tun oder zu unterlassen? All dies kann auf verschiedene Arten „richtig“ beantwortet werden. Aus diesem Dilemma kommen wir nicht unbeschadet heraus.

Seit Corona fordert uns die Politik oft zur Eigenverantwortung auf. Drückt sie sich vor Verantwortung?

Teilweise ja, es gibt in manchen Fällen eine Verantwortungsübertragung von der institutionellen auf die individuelle Ebene des Handelns. Das heißt, das Individuum ist permanent überfordert mit der Frage, was zu tun ist, eigentlich braucht es aber grundlegende Regeln und Maßgaben. Wir können nicht allein die Welt retten, dürfen aber auch nicht aus Bequemlichkeit alles den anderen überlassen. Das beginnt bei der Entscheidung, welche Lebensmittel ich kaufe – regional oder öko oder beides? Wo ist das Kriterium, und wo stößt es an Grenzen, weil mir Expertise fehlt oder Zeit? Darauf Antworten zu finden, ist alles andere als leicht und ich erlebe das in meinem Alltag oder im Gespräch mit meinen Kindern immer wieder.

Welche Art „Kraft“ braucht man, um Verantwortung zu tragen?

Ich brauche eine Möglichkeit, aufmerksam auf meine Welt zu schauen und festzustellen, wann eine Frage an mich auftaucht. Das ist es, was der Soziologe Hartmut Rosa mit Resonanz meint. Frage und Antwort treten im besten Fall in Resonanz. Dafür brauche ich konzentrierte, fokussierte Aufmerksamkeit.

Wo wird die eingeübt?

Es gibt ja durchaus Entwicklungen, die von der Sofortness und digitalen Effizienz Abstand suchen – Trends zu Achtsamkeit und Entschleunigung etwa. Wenn ich mich allerdings nur selbst optimieren will, ist es etwas anderes, als wenn ich mich in der philosophischen Idee des „Tugendhaften“ übe: darin, das Gute, das über meine Interessen hinausgeht, zu meinem Maßstab zu machen.

Heißt das, wir brauchen eine neue Spiritualität?

Ina Schmidt

ist Philosophin und Publizistin. Sie studierte Kulturwissenschaften an der Uni Lüneburg und promovierte über Martin Heidegger.

Möglich. Ich habe kürzlich ein Seminar gehalten über Spiritual Care, wo es nicht nur darum ging, zu fragen, woran wir glauben, sondern wofür wir sorgen wollen: nicht nur kognitiv das Notwendige zu erkennen, sondern auch in ein sorgendes Verhältnis zu uns selbst, zur Welt und zur Natur zu kommen. Und darin eine Aufgabe zu erkennen, die nicht mit Wohlbefinden zu tun hat, sondern damit, dass die Umwelt auf unsere Fürsorge angewiesen ist. Dass es um Regeneration gehen muss, um Heilung durch Unterlassen.

Kann das gelingen, wenn wir an nichts mehr glauben?

Wenn ich mich in meinem Umfeld umhöre, habe ich den Eindruck, die meisten glauben durchaus an etwas – die Liebe oder die Natur oder eine persönliche Mischung aus Dingen, die sie zu ihrem Guten gemacht haben. Was trotzdem fehlt, ist ein kollektives Getragensein von etwas. Ein Kollege hat es mal metaphysische Obdachlosigkeit genannt.

Wie wäre sie zu beheben?

Ich glaube, dass wir in der sozialen Eingebundenheit, in der wir uns ohnehin bewegen, etwas entwickeln können, das mehr ist als Solidarität. Sondern der Wunsch, dieses Sorgende zur gemeinsamen Aufgabe zu machen. Das hat einen anderen Ton und eine andere moralische Farbe, als wenn ich mit erhobenem Zeigefinger Menschen sage, was sie zu tun oder zu lassen haben, damit übermorgen nicht die Welt untergeht.