Soziologe über Mobilität und Grenzen: „Globale Ungleichheit“

Die Globalisierung hat Grenzen aufgehoben und die Mobilität erhöht. Jedoch nur für einen „globalen Adel“, sagt Steffen Mau von der HU Berlin.

Ein Mann und eine Frau in Badekleidung beobachten am Strand von Gran Canaria ein Gruppe von Migranten

Zwei Welten treffen aufeinander – wie hier auf Gran Canaria Foto: Borja Suarez/reuters

taz: Herr Mau, wir können fast überallhin reisen. Trotzdem sprechen Sie in Ihrem neuesten Buch von der „Neuerfindung der Grenze“. Das irritiert.

Steffen Mau: Die Primärerfahrung der letzten 30 Jahre ist für einen bestimmten Teil der Weltbevölkerung in der Tat die Grenzöffnung gewesen, oder, was wir immer mit der Globalisierung verbinden, dass es mehr Durchlässigkeit, mehr Mobilität, mehr Bewegung über Grenzen hinweg gibt. Das gilt aber nur für eine ganz kleine Globalisierungselite.

Zu der wir im westlichen, nordeuropäischen Teil dieser Welt gehören?

Ja. Und da diese Globalisierungselite auch im globalen Diskurs dominant ist, empfinden wir die Entgrenzungsglobalisierung als ein universelles Phänomen. Ausschluss, Beschränkung, Grenzhärtung sind aus unserem Horizont weitgehend verschwunden, obwohl wir wissen, dass es diese gibt und auch immer medial davon aufgeschreckt werden. Aber in unserer eigenen Beziehung zur Welt haben wir das selten mit reflektiert.

Nach Ihren Studien irrt diese Empfindung …

Ja. Für die allermeisten Menschen heißt Globalisierung nicht Mobilisierung, sondern Immobilisierung. Sie sind mit größeren Schwierigkeiten konfrontiert, ihren Herkunftsort zu verlassen. Sie sind häufig sogar eingeschlossen. Man kann beispielsweise feststellen, dass die Reisefreiheit vieler afrikanischer Länder in den 1960er Jahren wesentlich größer war, als sie heute ist. In dem Moment, als die Globalisierungsbewegung angefangen hat und mehr Leute Mobilität beansprucht haben, hat man das visumfreie Reisen selektiv wieder abgeschafft.

Nach welchem Muster?

Der Wohlstand eines Landes ist ganz entscheidend dafür, wohin und wie frei man reisen kann. Dieser Zusammenhang zwischen Ökonomie und Mobilitätsprivilegien ist ein Effekt der Globalisierung. Die Sortierfunktion der Grenze macht dies deutlich – sie filtert zwischen Willkommenen und Unwillkommenen, und dabei spielt die Ökonomie eine große Rolle.

Professor für Makrosoziologie an der HU Berlin. Seine Themen: Ungleichheit, Transnationalisierung, europäische Integration, Migration. Er schrieb den Bestseller „Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“. Aktuell erschienen ist: Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“, 2021, Verlag C. H. Beck.

Wer wird ausgeschlossen?

Wenn wir uns die globale Verteilung anschauen, dann kann man sehen: 1950 gab es weltweit 25 Millionen touristische Reisende, vor Corona waren es 1,6 Milliarden, sechzig mal mehr. Schaut man genauer, wer reist, ist es vor allem der Globale Norden oder sind es Reisende aus der OECD-Welt mit ein paar anderen Staaten, die grenzüberschreitend mobil sind: aus den Golfstaaten, neuerdings die indische und chinesische Mittelschicht. Aber man kann davon ausgehen, dass 80 bis 90 Prozent der Weltbevölkerung noch nie in einem Flugzeug gesessen hat. Pro Jahr fliegen 2 bis 3 Prozent der Weltbevölkerung.

Es ist also vor allem unsere ökonomische Situation, die uns die Welt öffnet.

Der Hauptfaktor für die Position einer Person in der Globalisierungshierarchie ist die ökonomische Stärke. Sowohl die Stärke des Herkunftslands, dessen Pass man innehat, wie auch die ökonomische Stärke der Person selbst, ob sie zu einkommensstarken Gruppen gehört oder nicht. Also wenn man jetzt als Außerirdischer auf diese Welt schauen würde, dann würde man feststellen, die Welt ist eigentlich in Gebietsparzellen eingeteilt: Das sind so kleine Waben, und da gibt es einige Menschen, die können sich relativ frei zwischen diesen Waben bewegen, und dann gibt es einen großen Teil, der in diesen Waben eingeschlossen ist. Mit diesem fremden Blick könnte man den Eindruck kaum abwehren, dass es einen globalen Adel gibt, der sich frei bewegen kann, und andere, die bleiben in ihrem Territorium eingeschlossen, sind räumlich fixiert.

Wie gehen Sie bei Ihren Untersuchungen genau vor?

Wir kartografieren und erfassen beispielsweise alle physischen Landesgrenzen weltweit – es gibt über 300 – und erheben Daten zu Visabestimmungen. Dann können wir diese Informationen mit anderen Informationen zusammenspielen, um beispielsweise zu verstehen, welches die Faktoren für eine harte Grenze sind. Und da kann man sehen, dass an fast allen Wohlstandsgrenzen, also Grenzen, wo es starke Wohlstandsgefälle zwischen Nachbarstaaten gibt, Grenzen aushärten, zu Mauergrenzen werden. Die Wohlstandsgrenze ist in der Regel eine sehr starke und sehr rigide Grenze.

Es gibt also auch einen Zusammenhang zwischen Ökonomie, ökonomischem Status und der Art und Weise, wie Grenzen organisiert sind?

Die Faustformel ist immer: Je reicher, je privilegierter, umso abgeschotteter vom Rest der Welt, desto selektiver ist die Grenze. Im Prinzip kann man sagen, der Globale Norden ist eine Art Gated Community. Auch bei Gated Communities gehen die Bewohner täglich raus und sind frei zu reisen. Und was für Leute kommen rein? Da wird stark sortiert. In der Regel sind es andere Wohlhabende, aber natürlich auch nützliches Personal, Nannies, Paketfahrer und andere Dienstleister. Und solche Leute kommen natürlich auch in den Globalen Norden hinein: Arbeitskräftemigration, Erntehelfer. Sie dürfen kommen, wenn es ökonomisch interessant ist. Diese Selektivität kann man als scharfe Form der Ungleichheit verstehen. Und unsere Art, Mobilität zu gestalten, führt zur Verfestigung globaler Ungleichheit. Es ist nicht harmlos, einfach nur zu reisen und die Freiheit zu genießen. In dieser Praxis werden auch Verhältnisse reproduziert.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass eine ganze Menge für den Ausschluss getan wird.

Ja, zum Beispiel die ganzen neuen Mauerbauaktivitäten auf allen Kontinenten mit dem Zweck, die nicht erwünschten Mobilen rauszuhalten. Das geschieht zwischen Polen und Belarus, zwischen der Türkei und Syrien oder zwischen Südafrika und Mosambik. Es gibt an allen Orten dieser Welt mehr und mehr sogenannte fortifizierte Grenzen, die Zahl hat sich in 30 Jahren verfünffacht.

Sie bezeichnen diese Grenzen als Sortiermaschinen. Das verstört doch sehr unser liberales Selbstverständnis?

Es muss unser eigenes liberales Bewusstsein stark irritieren. Denn es ist häufig so, dass es an den Rändern von liberalen Gesellschaft, sehr illiberale Grenzregime gibt. So werden mit großer Brutalität die Menschen im Mittelmeer von Europa ferngehalten. Über 1.500 Menschen sind schon dieses Jahr im Mittelmeer ertrunken. Wir rümpfen die Nase über die amerikanisch-mexikanische Grenze. Man kann aber davon ausgehen, dass es bei uns in Europa nicht viel anders aussehen würde, wenn wir nicht das Mittelmeer als Grenze hätten. Wenn man die Befestigung in den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta sieht, ist das sehr naheliegend.

Das sind brutale Grenzen. Es gibt auch die smarten Grenzmechanismen.

Mit der Möglichkeit der Smartifizierung von Grenzen sind natürlich auch die Kontrollambitionen von Staaten ganz andere geworden. Früher ist man zur Schlagbaumgrenze des 19. Jahrhunderts gekommen, hat den Pass vorgezeigt und es wurde geprüft, ob die Person mit dem Passfoto identisch ist. Heute sind die Grenzen ganz stark mit Daten und der biometrischen Verifikation verknüpft. Die Grenze kennt einen schon, wenn man dorthin kommt, weil Daten vorhanden sind. Das geht soweit, dass auch unsere biometrischen Daten in die Hände von anderen Staaten geraten. Also, wenn Sie nach Russland einreisen oder nach China, werden automatisch die Daten erhoben. Die Grenze ist eine Datenzapfstation.

Und gleichzeitig beschreiben Sie, wie sich die Kontrollfunktion der Grenze verschiebt.

Ich schaue auf Grenzen nicht nur als territoriale Linie, sondern ich definiere die Grenze über ihre Funktion. Und Grenzen finden überall dort statt, wo Kontrolle ausgeübt wird, mobilitätsbezogene Kontrolle. Das ist ein anderer Blick, weil man dann sieht, dass sich die Grenzkontrolle oft von der Grenze entfernt. Die Grenze lagert sich vor, als Exterritorialisierung von Grenzkontrolle. Dafür steht zum Beispiel der EU-Türkei-Deal oder das Vorgehen der Europäischen Union in Nordafrika zum Zwecke der eigenen Grenzsicherung. Die Grenze verlagert sich aber auch ins Inland durch neue Kontrollformen im öffentlichen Raum. Technologie, die an der Grenze eingesetzt wird, wird auch im öffentlichen Raum genutzt oder es werden Verkopplungen hergestellt. Sobald man die Leute biometrisch an der Grenze erfassen kann, wird man überall dort, wo eine Kamera an entsprechende Systeme angeschlossen ist, die Leute wiedererkennen.

Beängstigt Sie das?

Ja, ich finde das schon beängstigend, weil es sehr rigide Ausschlussmechanismen produziert. Indien hat die Bevölkerung mit dem System Aadhaar flächendeckend biometrisch identifiziert, um den Zugang zu Sozialleistungen zu regulieren. Es gibt den Social Credit Score in China, der in etlichen Provinzen pilotiert wird. Wenn man da sehr schlecht abschneidet, kann man beispielsweise kein Ticket für Fernzüge mehr erwerben. Solche Klassifikationsprozesse können zu starker Reglementierung und politischer Disziplinierung führen.

Wie schaffen wir es in unseren westlichen liberalen Gesellschaften, die offensichtlich nicht willens sind, eine unbegrenzte Zahl von Personen aufzunehmen, uns nicht ganz der Verantwortung zu entziehen. Haben Sie eine Lösung?

Nein, aber ich sehe dies als einen zentralen Grundkonflikt zukünftiger Entwicklung, zumindest von westlichen Gesellschaften. Wir haben mit der Globalisierung unsere eigenen Mobilisierungsmöglichkeiten stark maximiert, zugleich andere davon exkludiert. Diese Art der Abschottung wird nicht nur immer schwerer zu rechtfertigen, sie führt auch zu immer mehr handfesten Konflikten – innerhalb der Gesellschaften, aber auch an den Grenzen selbst.

Gleichzeit wird die Migration zunehmen global, auch die Klimamigration, die Armutsmigration. Was wird das bewirken?

Das wird uns vor sehr, sehr große Probleme stellen. Dann stellt sich schon die Frage, mit welchen Mitteln wir bereit sind, diese Grenzen zu verteidigen. Wie weit will man gehen, wenn es um die Grenzsicherung geht? Die Szenen, die sich jetzt zwischen Belarus und Polen an der Grenze abspielen, sind mit dem Wertegerüst, auf das sich die Europäische Union bezieht, kaum mehr vereinbar. Weil man einerseits die gesicherte Grenze möchte und andererseits weiß, dass das große negative Auswirkungen auf Fragen wie den humanitären Schutz oder das Asylrecht haben wird. Die Grenze konfrontiert uns mit den globalen Asymmetrien und den Privilegien, die unser Leben ausmachen.

Was tun mit den Widersprüchen, die Sie in Ihrem Buch aufzeigen?

Ich möchte auf die Janusköpfigkeit der Globalisierung hinweisen. Dass sie einerseits die Mobilitätsmöglichkeiten erweitert und sie andererseits verengt, einschränkt. Und dass dadurch eine Grundspannung erwächst, die für liberale Gesellschaften kennzeichnend ist. Als Soziologe geht es mir darum, das analytisch zu durchdringen. Und natürlich auch darum, Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sich diese Grundspannung noch mal verstärken wird. Ebenso dafür, dass wir als Globaler Norden dafür mitverantwortlich sind, dass die Lebensgrundlage von vielen Menschen im Globalen Süden zerstört werden, etwa durch die Klimawandel. Und wenn diese Leute sich in Bewegung setzen, dann ist es schwer zu sagen, dass ist unsere Grenze, ihr dürft da nicht drüber.

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