Mehr Partizipation durch Bürgerräte: Wenn das Volk stört

Bürgerräte können produktive Lösungen für verfahrene Sachdiskussionen liefern. Leider sind die Ampelparteien bei mehr Partizipation sehr zögerlich.

Wissing, Habeck, Baerbock und Lindner auf eine rRolltreppe nach oben.

Wie viel Volk ist gewollt? Die Spitzen von Grünen und FDP Mitte Oktober Foto: Christoph Soeder/dpa

Das Sondierungspapier von SPD, Grünen, FDP ist immerhin 12 Seiten stark. Und es enthält einen expliziten Punkt zu „Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie“. Zur Stärkung der demokratischen Partizipation jenseits von Wahlen findet sich dort aber … nichts. Dafür die unschöne Stilblüte, dass man, natürlich „entschlossen“, gegen jede „Form von Menschenfeindlichkeit“ vorgehen will, wobei sich in der beispielhaften Aufzählung neben „Antisemitismus, Rassismus“ etc. auch der „Linksextremismus“ wiederfindet, pikanterweise direkt vor „Queer-Feindlichkeit“. Dabei dachte man eigentlich, dass die simple Gleichsetzung Rot gleich Braun nun wirklich intellektuell überholt sei und dies wenigstens bei den Grünen auch angekommen wäre.

Inhaltlich gibt es zu den formellen Grundlagen der Demokratie nur diese konkreten Aussagen im Sondierungspapier: „Wir wollen das Wahlrecht überarbeiten, um nachhaltig das Anwachsen des Deutschen Bundestages zu verhindern. Das Wahlalter für die Wahlen zum Deutschen Bundestag und Europäischen Parlament wollen wir auf 16 Jahre senken.“

Das sind sicher ehrenwerte Vorhaben. Aber was ist mit einer stärkeren BürgerInnenbeteiligung zwischen den gelegentlichen Akten des Ankreuzens in der Wahlkabine oder auf Briefwahlleporellos? Nur im Anfangsteil, nicht etwa zu „Demokratie“, sondern zum „Modernen Staat“ liest man vorher ganz allgemein: „Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs, wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben.“

Diese Einschränkung, bloß nicht das Prinzip der Repräsentation aufzugeben, ist wirklich auffällig. Denn eigentlich haben alle drei beteiligten Parteien zu BürgerInnenräten in den Wahlprogrammen stärkere positive Signale gesetzt, so dass man hier mehr erwarten durfte. Und wohin eine Pseudolösung führt, die ein öffentlich viel geäußertes Anliegen zwar scheinbar aufgreift, es aber zugleich so entschärft, dass am Schluss garantiert nichts die Ruhe Störendes herauskommt, lässt sich am letzten Bundestag beobachten.

Auch der hatte schon einmal ein „Modellprojekt Bürgerrat“ gestartet. Und damit der bloß nicht aus dem Ruder läuft, ihm das schöne Besinnungsthema verpasst: „Deutschlands Rolle in der Welt“. Das erinnert doch sehr an eine Schülervertretung, die gern mit so ungemein wichtigen Aufgaben betraut wird, wie auf ein Angebot an Hafermilch im Schulkiosk zu achten.

Die Bevölkerung hat höhere Ansprüche als früher

Es wäre mehr als angebracht, wenn aus dieser selbsternannten Reform- und Fortschrittskoalition auch in Bezug auf die demokratische Partizipation etwas Vorzeigbares und Verbindliches folgen würde. Oder sind die Verhandlungspartner der gleichen Meinung wie alle Parlamentsmehrheiten der letzten Jahrzehnte? Demokratie, ja bitte – aber zwischen Wahlterminen stört das Volk beim Regieren?

Dabei würde die Chance vergeben, umstrittene politische Streitthemen aus dem normalen, parteipolitisch gefärbten Diskurs zu lösen und sie einer anderen demokratischen Institution mit (nach aller Erfahrung schnell aufgebauter) großer Legitimität anzuvertrauen. Denn die Problemlösungskapazität von Parlamenten scheint zunehmend schon dadurch eingeengt zu werden, dass sich die Parteienlandschaft ausdifferenziert und zur Regierungsbildung Koalitionen aus mehreren Gruppierungen gebildet werden müssen, die oft wenig Inhaltliches verbindet. Parallel hat die Bevölkerung aber höhere Ansprüche an politische Konsistenz entwickelt – ein Nebenprodukt steigender Bildung.

Ein europäisches Vorbild dafür, wie man die Institution BürgerInnenrat produktiv für politische Lösungen nutzt, ist die Republik Irland. Dort wurden selbst extrem umstrittene Fragen wie der Umgang mit Abtreibungen durch eine ausgeloste Citizens’ Assembly konstruktiv und unter großer Beteiligung der Öffentlichkeit diskutiert. Ein folgendes Referendum für eine recht liberale Regelung wurde im früher erzkatholischen Land mit relativ großer Mehrheit angenommen.

Für Deutschland gäbe es ein Thema, das gut als Probebühne für spätere weitreichendere und tiefgehendere Fragen dienen könnte: Tempobeschränkung auf allen Autobahnen in Deutschland. Hier können sich die Ampelpartner bekanntlich nicht einigen, obwohl es eine gesellschaftlich heiß diskutierte Frage mit hohem Symbolwert ist. Wenn sich Politik bei einem solchen Thema wenig handlungsfähig zeigt, dürfte die Zivilgesellschaft dagegen ziemlich sicher in der Lage sein, einen Vorschlag zu erarbeiten, der überzeugt.

Eine generelle Tempobeschränkung auf den Autobahnen und wenn ja, in welcher Höhe, wäre auch eine gut abgegrenzte Problemstellung, die nach einer Debatte mit wissenschaftlicher Beratung und unter Beteiligung der Öffentlichkeit von einem BürgerInnenrat mehrheitlich beantwortet werden kann. Eine Empfehlung würde darüber hinaus so gut wie keine Kosten verursachen und verfassungsrechtlich läuft man ebenfalls keine Gefahr.

Der Vorschlag sollte dann idealerweise einer Volksabstimmung unterworfen werden, so wie es in Irland und anderenorts geschah. Wenn das in dieser künftigen, nach dem ersten Eindruck eher zurückhaltenden Koalition noch nicht durchsetzbar scheint, dann sollte wenigstens der Bundestag darüber namentlich abstimmen müssen. Wobei vorher der Fraktionszwang aufzuheben wäre, die jeweilige Abstimmungsfrage also zur Gewissensfrage erklärt wird. Das ist ein akzeptiertes Verfahren bei bestimmten, ethisch aufgeladenen Themen, wäre aber als Respekt vor den Ergebnissen der Beratung einer BürgerInnenauswahl ebenso angebracht. Und dann kann die Zivilgesellschaft vor Ort auf ihre Abgeordneten zugehen und eine Begründung ihrer persönlichen Stimmabgabe einfordern. Hinter Parteibeschlüssen kann sich dann niemand mehr verstecken.

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war Professor und Hochschulforscher an der Europa-Universität Flensburg. Seit Frühjahr 2021 ist er im Ruhestand.

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