Von Pfeifenrauchern, Wüstenskorpionen und hermetischen Garagen

Rechtzeitig vor Weihnachten haben Comic-Verlage hochwertige Gesamtausgaben oder lange vergriffene Sammelbände von Serienhelden im Programm: Ein Überblick zu aktuellen Ausgaben von Micky Maus über Lucky Luke bis Moebius

Floyd Gottfredson beim Entwerfen eines Micky-Maus-Comicstrips Foto: Disney2021/Egmont Comic Collection

Von Ralph Trommer

Im Gegensatz zu literarischen Klassikern kommt es im Comicsegment immer wieder vor, dass wesentliche Werke der Publikationsgeschichte lange nicht lieferbar sind oder vergriffen bleiben. Auch die Verlage zeigten bislang nicht immer Interesse, neue Auflagen zu drucken, wenn es sich nicht gerade um Verkaufsschlager handelte und ihnen aktuelle Titel wichtiger erschienen. Tatsächlich sind sämtliche Abenteuer von „Asterix“, „Tim und Struppi“ oder Carl Barks’ „Donald Duck“-Comics dauerhaft und nahezu komplett erhältlich.

Doch was ist mit anderen Serien? Selbst die berühmte Micky Maus scheint keine Lobby zu haben, denn jahrzehntelang waren die Comicstrips aus der Feder ihres wichtigsten und besten Zeichners, Floyd Gott­fred­son (1905–1986), nur vereinzelt und gelegentlich in Anthologiebänden zu finden. Nun hat der Egmont-Verlag endlich mit der „Floyd Gottfredson Library“ eine Ausgabe gestartet, die in zwölf Bänden sämtliche Tageszeitungsstrips des Zeichners von 1930 bis 1955 herausbringt: Eine lohnende Ausgabe, denn nun endlich können die langen Fortsetzungsabenteuer von Micky entdeckt werden.

Im Gegensatz zum eher langweiligen Image des Mäuserichs in späteren Comics anderer Zeichner ist er hier noch ein vitaler Charakter und bewährt sich in allen möglichen Genres wie Science-Fiction, Grusel- oder Mystery-Krimi. Auch Ereignisse wie die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg werden in Gottfredsons Comics widergespiegelt, denn sie wandten sich zur Zeit ihres Entstehens nicht nur an Kinder, sondern an Zei­tungs­le­se­r:in­nen jeden Alters.

Der Stuttgarter Egmont-Verlag hat auch – zum 75-jährigen Jubiläum – eine neue Lucky-Luke-Gesamtausgabe gestartet, die die bereits vorhandene Ausgabe in den Schatten stellt. Insbesondere neue redaktionelle Texte mit wissenswerten Hintergründen zur Entstehungsgeschichte der seit 1946 publizierten humoristischen Westernreihe sind hervorragend aufbereitet und warten mit seltenen Zeichnungen von Morris auf. Im Band „Das große Lucky-Luke-Lexikon“ von Volker Hamann und Horst Berner wird der Gesamtausgabe zudem ein neues Nachschlagewerk zu Seite gestellt, in denen man etwa alphabetisch den historischen Figuren in der Serie nachspüren kann. Auch andere Verlage pflegen das „Comic-Erbe“. In der „Bibliothek der Comicklassiker“ des Hamburger Carlsen Verlags werden hauptsächlich Zeitungscomicserien wie „Hägar“ neu aufbereitet, dabei wird jeweils eine Best-of-Auswahl getroffen.

Foto: Abb.: Disney2021/Egmont Comic Collection

Trocken-humorige Strips

Zuletzt erschien hier ein Band mit den trocken-humorigen Strips um das neunmalkluge Mädchen „Mafalda“, die berühmteste Figur des im vorigen Jahr verstorbenen argentinischen Zeichners Quino. Die Strips enthalten stets Anspielungen auf politische und gesellschaftliche Debatten der 1970er oder sie werfen philosophische Fragen auf. Insbesondere die modernen franko-belgischen Klassiker der 70er und 80er Jahre haben derzeit wieder Konjunktur. Die Edition Moderne in Zürich hat kürzlich sämtliche „Nestor Burma“-Kriminalcomics aus der Feder des Franzosen Jacques Tardi in einem dicken Sammelband neu aufgelegt. Wer also die vergriffenen Einzelbände nach den Romanen von Léo Malet nicht besitzt, dem sei diese ans Herz gelegt. Obschon sie etwas kleiner gegenüber dem originalen Albenformat ausfällt, ist sie immer noch gut lesbar. Die in schwarz-weißer Tusche gehaltenen Adaptionen Tardis geben unübertroffen stimmungsvoll das Paris der Kriegsjahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder, und der missmutige, Pfeife rauchende Held mit dem kräftigen Kinn ist ein echtes Original mit kantigem Charme. Insbesondere „120, Rue de la Gare“ ist ein Höhepunkt der Reihe, in dem Burma mit einem komplexen Kriminalfall vor dem Hintergrund der nazideutschen Besatzung konfrontiert wird. Léo Malet selbst zeigte sich begeistert von Tardis Comicadaptionen. Tardi hat nur einen einzigen Nestor-Burma-Comic in Farbe gezeichnet, „Blei in den Knochen“, der in dieser Ausgabe zwar nicht enthalten ist. Allerdings basiert er auch nicht auf einer Vorlage von Malet und muss deshalb hier nicht vermisst werden.

Der Hamburger Verlag Schreiber & Leser startet dieser Tage auch eine Neuauflage von Tardis nicht weniger meisterlichen Serie „Adele Blanc-Sec“, ebenfalls in Gesamtausgaben mit jeweils drei Abenteuern. Tardi hat mit der Titelfigur eine der stärksten Heldinnen der Comicgeschichte geschaffen, eine Schriftstellerin, die das Fin de Siècle in Paris miterlebt, den Ersten Weltkrieg und die Roaring Twenties. Die Serie ist als Hommage an Feuilleton-Fortsetzungsromane zu verstehen, deren Vorabdrucke in französischen Zeitungen Ende des 19. Jahrhunderts üblich waren. Auch spielt sie mit Versatzstücken aus verschiedenen Genres wie Kriminalroman, Phantastik oder Science-Fiction. Ein abschließender zehnter Band der Reihe steht noch aus. Der Verlag publiziert außerdem die Werke des italienischen Zeichners Hugo Pratt und hat kürzlich dessen wichtigste Serie um den Weltreisenden Corto Maltese abgeschlossen. Doch auch seine weniger prominenten Serien lohnen die Lektüre. Die in drei Bänden erschienenen „Wüstenskorpione“ – entstanden zwischen 1969 und 1983 – sind so eine, denn hier wird der Zweite Weltkrieg aus ungewöhnlicher Perspektive gezeigt. Held ist der rothaarige Koïnsky, ein Pole mit jüdischen Wurzeln, der ab 1940 in Afrika bei der britischen Eliteeinheit der „Long Range Desert Group“ (Wüstenskorpione genannt) kämpft. Im abschließenden Band 3, „Meeresbrise“, gelingt Pratt ein geradezu absurdes Finale, das 1941 in Abessinien beginnt und in dem Angehörige verfeindeter Kriegsparteien zu Gefährten werden.

Ungebundene Frauen

Foto: Abbildung: Disney2021/Egmont Comic Collection

Wie so oft bei Pratt, spielen starke, ungebundene Frauen eine wesentliche Rolle, wie Madame Brezza, die ehemalige Chefin des Bordells „Meeresbrise“ in Dschibuti, und die geheimnisvolle Ghula vom nomadischen Stamm der Danakil. Autobiografische Erfahrungen des Zeichners, der als Jugendlicher noch das faschistisch besetzte Abessinien erlebte, fließen in die Serie ein.

Eine visuell überwältigende Ausgabe hat der Bielefelder Splitter Verlag mit seiner „Moebius Collection“ herausgebracht. Viele der besten Werke von Moebius (alias Jean Giraud, 1938–2012) stammen aus den 1970ern und waren lange vergriffen, bevor vor einigen Jahren ein Revival einsetzte. Die Moebius Collection vereint in bisher drei (von vier) erschienenen Bänden seine wichtigsten Science-Fiction-Comics, darunter die bildgewaltigen farbigen Arzach-Geschichten und die verrätselte Schwarz-Weiß-Erzählung „Die Hermetische Garage“ (beide in Band 1). In Band 2, „Chaos“, werden vor allem kürzere Comics und One-Pager gesammelt, die den enormen Experimentierwillen und den Einfallsreichtum des Zeichners belegen. Eigens für die deutsche Ausgabe wurde die seit den 1980ern vergriffene Geschichte „Die Augen der Katze“ mit einbezogen, ein soghafter, genial konstruierter Schwarz-Weiß-Comic, der von Alejandro Jodorowsky erdacht wurde und fast ohne Worte auskommt. Im Großformat kommen die detailreichen Zeichnungen von Moebius besonders gut zur Geltung (enthalten in Band 3, „The Long Tomorrow“). Nach einer Shortstory von Dan O’Bannon entstand der futuristische Privatdetektiv-Comic „The Long Tomorrow“, der schon Moebius’ Serie „John Difool“ vorwegnahm und die Set-Designer von Ridley Scotts Film „The Blade Runner“ wesentlich zu ihrem SF-Schmuddellook beeinflusste.

Nahezu alle neuen Gesamtausgaben sind sorgfältig ediert, neu übersetzt und warten mit interessantem Zusatzmaterial auf. Da kann man sich nur wünschen, dass die Verlage so weitermachen.

Besprochene Werke:

Walt Disney, Floyd Gottfredson: „Micky Maus – Die Jagd nach dem Phantom“. Egmont Comic Collection, Berlin 2021, Schuber 2: 1936–1942, 872 Seiten, 150 Euro

Quino: „Mafalda“. Carlsen Verlag, Bibliothek der Comic­klassiker, Hamburg 2021, 208 Seiten, 35 Euro

Morris: „Lucky Luke“. Gesamtausgabe Nr. 2, Egmont Comic Collection, Berlin 2021, 216 Seiten, 39 Euro

Horst Berner, Volker Hamann: „Das große Lucky-Luke-Lexikon“. Egmont Comic Collection, Berlin 2021, 336 Seiten, 39 Euro

Jacques Tardi, Léo Malet: „Burma“. Edition Moderne, Zürich 2021, 408 Seiten, 39 Euro

Jacques Tardi: „Adele Blanc-Sec“. Sammelband 1, Schreiber & Leser, Hamburg 2021, 160 Seiten, gebunden, 29,80 Euro

Hugo Pratt: „Wüstenskorpione“. Band 3: „Meeresbrise“, Schreiber & Leser, Hamburg 2021, 176 Seiten, 29,80 Euro

Moebius: „Moebius Collection“. Band 3. Splitter Verlag, Bielefeld 2021, 184 Seiten, 35 Euro