Wohnungskrise in den Niederlanden: Aus dem Zelt zur Uni

Internationale Studierende werden gezielt angeworben, finden aber keinen Raum zum Wohnen. Landesweit gehen Menschen deshalb auf die Straße.

Protestaktion mit Plakaten von Studierenden

„Stoppt die Vermietung von Häusern zu Wucherpreisen!“, fordern Demonstrierende in Amsterdam Foto: Romy Arroyo Fernandez/imago

Rebekah wurde in ihrem Studierendenwohnheim sexuell belästigt, weshalb sie auszog und nun von Hotel zu Hotel wechseln muss. Rishi aus Mumbai lebt mit 14 anderen Studierenden in Hostelzimmern und muss jede Woche sein Hostel wechseln, weil diese nur Wochenaufenthalte zulassen. Sarah aus Deutschland versuchte monatelang, eine Unterkunft in Amsterdam zu finden, und pendelte schließlich für drei Monate jeden Tag von einer Verwandten in Belgien nach Amsterdam.

So lesen sich die Geschichten von Studierenden an der Vrije Universiteit Amsterdam. Zwischen 250 und 300 Studierende fanden hier im Sommer und Herbst 2021 keine Unterkunft.

Krise

Die bereits seit Jahren währende Wohnungkrise in den Niederlanden hat sich deutlich verschärft und hat mittlerweile alle Landesteile erreicht. Die Anzahl Obdachloser hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt: auf mittlerweile mindestens 40.000 Menschen. In dem Land mit knapp 17 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen sind 900.000 20- bis 35-Jährige aufgrund des Wohnungmarktes gezwungen, bei ihren Eltern zu wohnen.

Ursachen

Die Regierung der rechtsliberalen VVD unter Premierminister Mark Rutte löste viele bis dato existierende soziale Sicherungen auf, indem sie beispielsweise Haus­be­sit­ze­r*in­nen überproportionale finanzielle Zuschüsse gewährte. Der Hypothekenzinsabzug ist in den Niederlanden extrem hoch: Knapp 43 Prozent der Zinsen auf eine Hypothek können von der Steuer abgesetzt werden. Das führt dazu, dass Mieten in besser verdienenden Kreisen kaum verbreitet ist.

Auswege

Die Nie­der­län­de­r*in­nen gehen seit Monaten auf die Straße. Der Woonopstand (übersetzt: Wohnaufstand), der bereits in mehreren Städten Demonstrationen durchführte, fordert, dass die Bekämpfung der drohenden Obdachlosigkeit endlich höchste Priorität wird, mindestens 4 Milliarden Euro jährlich in öffentlichen Wohnraum investiert werden und der Hypothekenzinsabzug deutlich gesenkt wird. (taz)

Studis werden vertröstet

Die Niederlande erleben zurzeit eine der schwerwiegendsten Wohnungskrisen der letzten Jahrzehnte. Pieter van Rossum, Vizepräsident der Studierendengewerkschaft SRVU, erklärt: „Das Hauptproblem ist, dass die Universitäten nicht transparent kommunizieren.“ So würden internationale Studierende im Vorfeld überhaupt nicht über den schwierigen Wohnungsmarkt aufgeklärt, sondern auf Plattformen mit jahrelangen Wartelisten verwiesen. Dabei haben es gerade internationale Studierende ohne lokales Netzwerk ungleich schwerer, in den Niederlanden eine Unterkunft zu finden.

Ende September organisierte SRVU unter dem Motto „NoRoomForUs“ eine Demonstration auf dem Campus der Vrije Universiteit, um auf die Notlage aufmerksam zu machen. Mit Erfolg, ein Verwaltungsrat der Universität kam. Jedoch riet er den Demonstrierenden, „nach Hause“ zu gehen, die Universität würde sich um das Problem schon kümmern.

Salma Bel Lahdab, Politikwissenschaftsstudentin und Mitorganisatorin des Protests, ist enttäuscht: „Wohin soll ich denn nach Hause gehen? Es ist nicht einfach, wenn der Kopf den ganzen Tag daran denken muss, wo man noch nach einer Wohnung gucken könnte.“ Ohne wirkliches Zuhause bleibe kein Platz im Kopf für normales Leben, Privatleben sei wie ausgeschaltet: „Das ist physische Anstrengung, und selbstverständlich beeinflusst das auch meine Leistungen im Studium negativ“, erklärt sie. Die Universität war auch nach wiederholter Aufforderung nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.

Auch im nordniederländischen Groningen, einer beschaulichen Universitätsstadt mit knapp 200.000 Einwohner*innen, sieht die Lage Anfang des Wintersemesters 2021/22 düster aus: Über 600 Studierende finden am Höhepunkt der Krise keine Wohnung oder sind auf Couchsurfing, stundenlanges Pendeln oder wöchentliches Hostelwechseln angewiesen. Dort fingen die Studierendengewerkschaften an, Couchsurfing-Plattformen aufzubauen, um diesen gestrandeten Studierenden wenigstens eine temporäre Unterkunft anzubieten – auch weil eine Reaktion der Universität von Groningen ausblieb. Einige Studierende starteten sogar Petitionen mit dem Ziel, wieder den Online-Unterricht einzuführen, weil sie so von ihren Heimatorten teilnehmen könnten.

Unis werden internationaler

Das unabhängige Wissenszentrum Kences, welches Daten zu studentischem und sozialem Wohnen erhebt, hat Anfang Oktober eine neue Studie vorgestellt: Der Mangel an Wohnungen für Studierende hat sich innerhalb des letzten Jahres um schätzungsweise 4.500 erhöht und liegt nun bei 26.500 Wohnungen. Der Report macht den immer stärker werdenden Zustrom internationaler Studierender als Hauptursache der unproportional steigenden Zahl der Studierenden verantwortlich.

Weil durch den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union auch die britischen Universitäten nicht mehr so leicht zugänglich sind, hat die Popularität der niederländischen Studiengänge international massiv zugenommen. Die Niederlande sind das Land mit den meisten englischsprachigen Bachelor-Studiengängen in der Europäischen Union.

Dieser Trend wird von den niederländischen Universitäten stark unterstützt, die die Internationalisierung ihrer Programme vorantreiben. In besonderem Maße tut das die Vrije Universiteit Amsterdam. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Anzahl Studierender dort auf fast 30.000 verdoppelt. Ehemals niederländische Programme werden internationalisiert und neue, innovativ klingende, englischsprachige Programme zum Curriculum hinzugefügt.

Diese Expansionsagenda liegt zum einen daran, dass in den Niederlanden die Universitäten ihren Anteil an staatlicher Unterstützung proportional zu ihrem Anteil an allen in den Niederlanden immatrikulierten Studierenden erhalten. Die Konsequenz ist, dass sich die Universitäten in einem ständigen Konkurrenzkampf miteinander befinden, angetrieben von der Angst, dass andere mehr Studierende anlocken und dadurch mehr Gelder erhalten könnten. Und weil die niederländischen Regierungen der letzten Jahrzehnte konsequent das Budget für höhere Bildung zusammenstrichen, versucht jede Universität umso mehr an mehr Gelder zu kommen.

Zum anderen bezahlen Nicht-EU-Studierende deutlich mehr Gebühren pro Jahr als EU-Bürger*innen – auch ein Grund, warum Universitäten gerne Studierende aus der ganzen Welt anlocken. Und da Studierende grundsätzlich nicht aufgrund ihrer Nationalität abgelehnt werden dürfen, wächst der Korpus Studierender stetig weiter an.

Die Agenda wird von einer Politik unterstützt, die darauf erpicht ist, nach akademischer Brillanz zu streben. Mit Erfolg: Seit Jahren rangieren niederländische Universitäten auf Topplätzen in europäischen Rankings. Die Diskrepanz zwischen dieser Tatsache und dem fahrlässigen Umgang mit internationalen Studierenden durch Universitäten und Politik ist offensichtlich.

Auf dem offenen Wohnungsmarkt lauern noch weitere Tücken. Häufig verlangen Ver­mie­te­r*in­nen als Mindesteinkommen für Studierende utopische Summen oder lehnen Studierende generell ab. Zudem werden Wohnungen oft nur an Nie­der­län­de­r*in­nen vergeben.

Zelten im Stadtpark

Mittlerweile hat die Vrije Universiteit Amsterdam reagiert und den meisten der 230 obdachlosen Studierenden eine temporäre Unterkunft organisiert. Doch ausreichend sind diese Unterkünfte immer noch nicht; es sind entweder Zelte in Amsterdamse Bos, dem größten Stadtpark Amsterdams, oder überteuerte Hostelzimmer. Auch in Groningen hat sich die Situation inzwischen beruhigt. Unklar ist aber nach wie vor, was nächsten Sommer passieren wird, wenn erneut mehr internationale Studierende in die Niederlande kommen werden. Für die nächste niederländische Regierung wird die Wohnungskrise zu einer der höchsten Prioritäten gehören.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.