Bullen
vor
der
Tür

Der taz-Autor Reimar Paul hat ein Buch über Göttingens linke Szene in den 1980er Jahren geschrieben. Wir drucken Auszüge

Demonstration gegen die Razzia im Göttinger Jugendzentrum Juzi, 1986 Foto: Wolfgang Weihs/dpa/picture alliance

Razzia im Jugendzentrum Innenstadt (Juzi) 1986

Am Abend platzt das Juzi, wie man so sagt, aus allen Nähten. Mehr als 400 Menschen sind gekommen, die genaue Zahl wird allerdings erst später bekannt. Die Versammlung muss auf zwei Stockwerke aufgeteilt werden, im Eingangsbereich und im Flur drängen Leute nach. Die geräumten Besetzer berichten gerade über die Geschehnisse des Vormittags, als es draußen richtig laut wird. „Die Bullen!“, schreit jemand, und dann sind sie auch schon da.

Dutzende Mannschaftswagen fahren auf den Parkplatz vorm Jugendzentrum, viele weitere halten auf der Bürgerstraße. Polizisten bilden eine Kette vor dem Gebäude, andere treten die Türen ein und stürmen in das Haus. Rangeleien, Geschubse, großes Geschrei, Widerstand ist aussichtslos, wer sich trotzdem wehrt, wird getreten oder geschlagen. Panik bricht aus.

Eine Frau wird verletzt ins Krankenhaus gefahren, sechs Personen werden wegen „Widerstandes“ festgenommen. Keiner kommt mehr rein, keiner kann ohne erkennungsdienstliche Behandlung raus. Jeder und jede Einzelne wird durchsucht, erfasst und fotografiert – insgesamt 414 Personen. Auch die Räume werden gefilzt. Die ganze Prozedur dauert Stunden, bis nach Mitternacht. Anwälte, Journalisten und der Landtagsabgeordnete Jürgen Trittin werden zunächst nicht ins Juzi gelassen. Draußen versammeln sich hunderte Unterstützer, sie werden von der Polizei auf die andere Seite der Bürgerstraße abgedrängt.

Die Polizei hat sich erst am Nachmittag die Durchsuchungsbeschlüsse für das Juzi beim Göttinger Amtsgericht besorgt. Begründet werden sie mit reinen Vermutungen. Zum einen soll sich ein Störsender, der den Funkverkehr der Beamten behindert, im Juzi befinden. Zum anderen würden dortselbst Straftaten verabredet und vorbereitet. Das sind natürlich nur Vorwände …

Polizeichef Will sagt: „Wir wollten die Masse, die potentiell solche Straftaten begeht, mal aus der Anonymität herausreißen.“ Niedersachsens Innenminister Hasselmann sagt, man habe mit der Razzia „die Strippenzieher in ihren Löchern aufspüren“ wollen.

Beschlagnahme von Anti-Atomkraft-Kalendern

12. März, 9.30 Uhr. Der Fachhandel für bessere Bücher in Göttingen öffnet gerade seine Türen, als sich auch schon ein ansonsten an Literatur wohl eher uninteressiertes Publikum Zutritt verschafft. Die Polizei ist mal wieder unterwegs. Sie durchsucht zwei Buchläden, das Büro des Göttinger Arbeitskreises gegen Atomenergie, eine Druckerei sowie die Wohnungen von verschiedenen Personen, die mit dem Arbeitskreis in Verbindung gebracht werden – auch unsere Wohnung ist dabei. Wo niemand zu Hause ist, werden die Türen aufgebrochen und die Schlösser ausgewechselt. Die Betroffenen können sich ihre neuen Wohnungsschlüssel nachmittags auf der Wache abholen.

Die Staatsanwaltschaft bietet zwei Begründungen für die Razzien an. Eine ist ein Artikel in dem vom Arbeitskreis herausgegebenen aktuellen „Atomkraft? Nein danke“-Taschenkalender über die Wendlandblockade vom 30. April vergangenen Jahres. Der Text würdigt und kommentiert die damaligen Geschehnisse positiv, das waren sie aus unserer Sicht ja auch. Im Durchsuchungsbefehl liest sich das allerdings so: Die Wendland-Blockade werde beschönigend dargestellt, Straftaten würden begrüßt, die Einleitung von Ermittlungen nach § 140 Strafgesetzbuch – Belohnung und Billigung von Straftaten – sei somit unvermeidlich.

Von der Razzia erhofften sich die Ermittler, „… daß sie zur Auffindung von Beweismitteln und Gegenständen, die der Einbeziehung unterliegen, … führen wird“. Mit Beweismitteln und Gegenständen sind dabei sämtliche Unterlagen, die mit dem Vertrieb und der Herstellung der Kalender zu tun haben, sowie die Kalender selbst gemeint. Tatsächlich und folgerichtig wird dann auch die Restauflage des Kalenders beschlagnahmt – immerhin 2.801 Exemplare.

Zweiter Grund für die Durchsuchungen ist der Staatsanwaltschaft zufolge die Vermutung, dass die Betroffenen durch den Vertrieb sogenannter „Raubdrucke“ gegen das Urheberrecht verstoßen haben könnten. Mit Hilfe einer 14 Seiten umfassenden, eng beschriebenen Liste machen sich die Polizisten, dabei in engem Funkkontakt mit Fachleuten möglicherweise des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels stehend, an die Durchsicht diverser Bücherschränke.

Der Kraftakt zeitigt Erfolg. Tatsächlich werden aus den ­Regalen ein paar dieser „Raubdrucke“ gefingert, insgesamt wohl ein ­Dutzend Exemplare von Robert Jungks „Der Atom-Staat“ und Klaus Traubes „Müssen wir umschalten?“. Einen Beamten, der in ­unserer Wohnung zugange ist und offenbar große Probleme mit der ­Handhabung besagter Liste hat, können wir gerade noch ­überzeugen, dass „El Salvador“ nicht der Name eines Autors, sondern eines – zugegebenermaßen kleinen – Staates in Mittel­amerika ist.

Tod von Conny Wessmann bei einem Polizeieinsatz 1989

17. November. Wir sitzen abends im Salamanca, trinken Jever und essen, glaube ich, die leckeren galizischen Hühnerbeine mit einer fetten Portion Chips, als plötzlich eine junge Frau in Schwarz reinkommt und ruft: „Die Bullen haben eine von uns ermordet.“ Das Kneipengemurmel erstirbt, Bestecke und Geschirre klappern nicht mehr, der Zapfer erstarrt hinter der Theke. „Vorm Iduna“, bricht es aus der Frau heraus, ihre Stimme überschlägt sich: „Die haben sie auf die Straße gejagt, und da ist sie überfahren worden.“ Es soll dort gleich eine Mahnwache beginnen.

Die Kneipe leert sich, ein Teil der Besucher läuft zum Juzi, andere – auch wir – gehen zur Unfallstelle. Vor Ort, an der Weender Landstraße, Fassungslosigkeit und Entsetzen. Ein paar Grablichter flackern, Blumen werden am Straßenrand abgelegt. An der Fußgängerbrücke flattert ein schnell gemaltes Transparent: „Conny heute von den Bullen ermordet.“

Viele Leute weinen. Einige erzählen, was passiert ist. Und die, die es gerade erzählt bekommen haben, erzählen es wieder anderen. Manche Infos widersprechen sich, erst spät in der Nacht und am folgenden Tag verdichtet sich das Bild.

Das Buch

In seinem Buch „Unterwegs“, das Anfang November erscheint, beschreibt Reimar Paul die politisch bewegten 1980er Jahre in Göttingen. Die Zeit der Hausbesetzungen und der Anti-Atomkraft-Bewegung war noch nicht vorbei, aber gleichzeitig begann sich die autonome Szene zu formieren, und der Kampf gegen rechts und gegen staatliche Repression wurden wichtiger.

Reimar Paul: „Unterwegs“. Die Werkstatt Medienproduktion, Göttingen 2021, 256 Seiten, 18,90 Euro.

Der Autor

Reimar Paul, 66, studierte Volkskunde und Politik in Göttingen und schreibt als Journalist unter anderem für die taz. Er engagierte sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung und war 1980 bei der „Republik Freies Wendland“ dabei. Über diese Zeit schrieb er das 2018 erschienene Buch „In Bewegung“, das ebenfalls bei Die Werkstatt Medienproduktion erschien. Reimar Paul leitet die taz-­Radreisen ins Wendland.

Wieder mal haben sich acht bis zehn Nazis in der Stadt herumgetrieben. In der Burgstraße werden sie von Antifas gestellt, auf Höhe des Apex kommt es zu einer Schlägerei, es gibt Verletzte. Die Autonomen zerstreuen sich, während die Nazis von der Polizei per Platzverweis aus der Innenstadt gebeten und zur Bushaltstelle am Gothaer-Haus begleitet werden.

Gleichzeitig trifft sich eine Gruppe von rund 30 weitere Antifas, unter ihnen auch Conny Wessmann, in der Innenstadt. Sie werden von Bullen des „Zivilen Streifenkommandos“ (ZSK) verfolgt – das ZSK ist Nachfolger des berüchtigten „Aufklärungs- und Festnahmekommandos“, einer 50-köpfigen Sondereinheit gegen Linke der Göttinger Polizei.

Aus einem Streifenwagen setzt ein Polizist einen Funkspruch ab: „Ich würde sagen, wenn wir genug Leute sind, sollten wir die ruhig mal plattmachen hier.“ Derart aufgehetzt, die Schlagstöcke und CS-Gas-Sprühgeräte gezückt, gehen die Bullen nun gegen die Antifas vor.

„Die Polizeiautos versperrten uns den Weg“, sagt ein Augenzeuge. „Auch von hinten kamen Bullen. Einige hatten Knüppel in der Hand. Hunde waren im Einsatz, und es wurde mit der chemischen Keule gesprüht. Die Situation war sehr bedrohlich.“

Einige aus der Gruppe haben bereits den Mittelstreifen der Weender Landstraße erreicht. Auch Conny rennt auf die nicht abgesperrte Straße. Ein Auto erfasst sie und schleudert sie mehrere Meter durch die Luft. Ein Freund von Conny schildert die Situation nach dem Zusammenprall: „Sie lag, am Kopf blutend, auf der Straße. Ein Bulle vom ZSK mit dem Schlagstock in der Hand und einem Hund an der Leine schrie: ‚Alle hinlegen, hinlegen!‘, und andere Polizisten versuchten, bei einigen von uns die Personalien festzustellen. Leute, die sich um Conny kümmern wollten, wurden von der Polizei nur angebrüllt.“