Wenn die Nacht am tiefsten

Von Nachtschwärmern und Nachtgestalten: Bernd Brunner lüftet die Geheimnisse der Nacht

Bernd Brunner: „Das Buch der Nacht“, Galiani, Berlin 2021, 192 Seiten, 28 Euro

Von Helmut Höge

Es ist paradox: Gerade die Dunkelheit, die mit dem Einbruch der Nacht einsetzt, öffnet den Blick in die Ferne, in die Unendlichkeit des Weltalls“, schreibt der Kulturwissenschaftler Bernd Brunner in seinem „Buch der Nacht“. In 36 Kapiteln lotet er darin die Finsternis aus. Dazu ist das Buch gespickt mit Zitaten von Dichtern, Schriftstellern und Philosophen über die Nacht. Seit Kafka weiß man, dass diese Menschen arbeiten, wenn alle Bürger schlafen. Für Brunner ist Marcel Proust der „berühmteste Schlaflose“.

Lange Zeit war die Nacht jedoch vor allem mit Schrecken und Angst verbunden – vor wilden Tieren, Räubern, Mooren und Gespenstern. Für die katholische Kirche war sie gar die Zeit der Umtriebe des Teufels und der Hexen. Erst die Aufklärung brachte Licht ins Dunkel, während es von den Romantikern eher verehrt wurde, etwa von Novalis: „Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?“ Laut Brunner kommen einem dann die besten Ideen und brauchbarsten Einfälle, einigen Wissenschaftlern sogar noch im Schlaf.

Gehört dazu vielleicht auch die Erfindung der Glühbirne? Ernst Bloch hielt in finsteren Zeiten (1935) dafür, dass sie „die Anfechtungen des Nachtgrauens weit gründlicher geheilt hat als etwa Voltaire; denn sie hat das Grauen aus den Schlupfwinkeln der äußeren Dunkelheit selbst vertrieben und nicht nur aus der des Kopfes“. Heute, am Ende des technischen Fortschritts, beklagen wir jedoch die „Lichtverschmutzung“, die uns den „bestirnten Himmel“ über uns raubte, der Kants Gemüt noch mit „Bewunderung und Ehrfurcht“ erfüllte, ebenso wie das „moralische Gesetz“ in uns, mit dem es auch nicht mehr weit her ist, da die Verbrecher inzwischen selbst am hellichten Tag zuschlagen. Jenseits der verschwindenden Sterne und der Moral bleibt uns jedoch die Lust erhalten, die schon Goethe für die Nacht reklamierte. Auch für Nietzsche erwachten in dieser Zeit „alle Lieder der Liebenden“, die für die „Nachtschwärmer“ heute in Technoclubs laut werden, sehr laut. Wo es in der Sonne zu heiß ist, machen die Menschen gerne die Nacht zum Tag, von dort kommen die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“, die von Scheherazade erzählt wurden, um den Tod hinauszuzögern. Aus einem ähnlichen Grund zerstörten die europäischen Revolutionäre gerne Straßenlaternen: um im Dunkeln zu entkommen.

Brunner vergisst aber auch nicht die Tiere – Rehe, Füchse, Malaienbären –, die ebenfalls, um den Tod (durch die Menschen) zu vermeiden, „nachtaktiv“ wurden. Auch einige Pflanzen wie die Nachtkerze und die Mondblume erwähnt er. Die Nachtschattengewächse haben jedoch laut Brunner nichts mit der Tageszeit zu tun, sondern sind eher Nachtschadensgewächse, weil einige giftige Substanzen enthalten, „die zu einer Art ‚Umnachtung‘ führen können“. Auch die sechs Monate dauernde Polarnacht kann für Menschen aus südlicheren Ländern diesen Effekt haben.