Das Rätselhafte als Ressource

Das Geheimnis gilt als verdächtig, überall begegnet uns die Aufforderung zu mehr Transparenz. Die französische Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle ergreift Partei für das Verborgene und verteidigt es als Quelle zur Freiheit

Anne Dufourmantelle ertrank 2017 bei der Rettung zweier Kinder im Mittelmeer Foto: Jean-Marc ZAORSKI/Gamma-Rapho/Getty Images

Von Marlen Hobrack

Was kann ich wissen? So lautet eine der vier Grundfragen der Philosophie nach Immanuel Kant. Geht es nach der Psychoanalytikerin und Philosophin Anne Dufourmantelle muss man die Frage erheblich abwandeln: Was kann ich wissen wollen? Und was sollte mir lieber verborgen bleiben? Bereits 2017 erschien „Verteidigung des Geheimnisses“ der tragisch verstorbenen Autorin im französischen Original.

Dufourmantelle geht es im Kern ihres Plädoyers um die Unverfügbarkeit des Einzelnen. „Warum soll man keine Geheimnisse haben wollen? Um vor sich selbst zu verbergen, dass man kein Leben zu führen vermag, das welche hervorbringt – ein freies Leben?“

Das Geheimnis erscheint aber als Provokation innerhalb einer Gesellschaft, die Verfügbarkeit und Transparenz zu einem Ideal erhebt. „In kultureller Perspektive hat das Recht auf Information sich allerorten durchgesetzt.“ Das ist gleichbedeutend mit einer Entzauberung der Welt und des Individuums.

Nicht zufällig nennt Anne Dufourmantelle das Beispiel der Erotik, die ein Spiel mit Offenbarung und Verhüllung ist, während das Obszöne keine Geheimnisse kennt, alles offenbaren muss. Die kollektive Praxis der mediengestützten Selbstentblößung ist in diesem Sinne obszön.

Aber nicht nur das Selbst braucht das Geheimnis; die Politik, die Macht selbst benötigt das Arkanum. Jeder wisse, „dass eine transparente Politik unmöglich ist, weil die Macht zu ihrer Ausübung das Geheimnis pflegt (sic).“ In Deutschland führte die Piraten-Partei das Problem totaler Transparenz vor Augen. Erst im Geheimen eröffnet sich die Möglichkeit, einen Kompromiss anzubieten – und trotzdem öffentlich das Gesicht zu wahren.

Es habe sich aber das Missverständnis etabliert, dass die Wahrung eines Geheimnisses gleichbedeutend mit einer Lüge sei. Der politische Whistleblower wird so zu einer doppeldeutigen Figur. Er entspricht dem öffentlichen Verlangen nach totaler Transparenz und macht sichtbar, dass ausgerechnet diejenigen, die das Gesetz repräsentieren, dasselbe heimlich unterminieren. Er entspricht dem Wunsch nach Wahrhaftigkeit; er destabilisiert das System der Macht.

Besonders diffizil wird die Verteidigung des Geheimnisses aus Perspektive der Psychoanalytikerin. Lautet die Forderung der Analytikerin an den Analysanden nicht, alles zu sagen, was ihm in den Sinn kommt – mithin also, kein Geheimnis zu bewahren? Aber genau hier treffen wir auf ein Missverständnis: Dass nämlich die Wahrheit des Subjektes enthüllt werden müsste. „Ob Trauma oder nicht, nicht immer liegt die Wahrheit eines Menschen in seinem Geheimnis.“

Sigmund Freuds analytische Regel wurde zudem vor dem Hintergrund einer anderen Kultur formuliert; einer Kultur nämlich, die das Intime mit aller Macht unterdrückte. Heute aber gilt ein anderer gesellschaftlicher Imperativ: Offenbare dich, zeig dich, sei sichtbar. Das seien „perverse Regeln, die direkt das Über-Ich als den Zensor ansprechen, der innere Freiheit gewährleisten soll. Als würde man seinen Gefängniswärter fragen, wie man am besten ausbrechen kann.“

Anne Dufourmantelle: „Verteidigung des Geheimnisses“. Diaphanes Verlag, Berlin 2021, 168 S., 20 Euro

Und was, wenn das Begehren zu wissen, was geheim ist, nur in ein viel tragischeres Wissen mündet? Dufourmantelle nennt das Beispiel des Märchenkönigs Blaubart, der seine Frau anweist, einen verschlossenen Raum nicht zu betreten – ihre prompte Übertretung offenbart sein schauriges Geheimnis; sie entdeckt die Leichname ihrer Vorgängerinnen.

Nun könnte man sagen, dass Blaubart nicht der beste Zeuge eines Plädoyers für das Geheimnis ist. Nur, wenn man Blaubarts Leichen im Keller metaphorisch und nicht als reale verstümmelte Körper deutet, kann man Dufourmantelle zustimmen: Die junge Frau hat etwas an ihrem Mann gesehen, was sie besser nicht gesehen hätte. Ihre Strafe besteht nun darin, dass sie nichts ungesehen machen kann. Im nichtmetaphorischen Sinne aber bestätigt sich das Misstrauen der Frau. Bleibt ihre Suche nach dem Geheimnis aber auch dann zwanghaft, wenn es einen Grund dafür gibt?

Dufourmantelles Essay hat eine seltsame Eigenheit: Je genauer man ihn liest, desto stärker entzieht er sich, ganz so, als hätte er ein verborgenes, geheimes Zentrum, als verschließe er sich der totalen Transparenz. An die Stelle einer stringenten, logischen Abhandlung tritt ein schwelgendes Suchen in Aphorismen.

Bisweilen wirft Dufourmantelles Text deshalb mehr Fragen auf, als er beantwortet.