Polnisch-belarussische Grenze: Auf der Reise nach Europa

Europa muss sich an der Ostgrenze seiner selbst vergewissern. Und die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze angehen.

Menschen im Dunkeln in einer Bushaltestelle, davor Polizei.

Von der polnischen Polizei aufgegriffene Mi­gran­t*in­nen im Osten Polens Foto: Jakub Kaminski/imago

Europas Herz schlägt derzeit in Usnarz Górny. Das ist ein Dorf an der polnisch-belarussischen Grenze, wo seit zwei Monaten afghanische Flüchtlinge campieren. Sie und viele andere werden von Alexander Lukaschenkos Regime dorthin gebracht, um die EU-Ostgrenze zu destabilisieren.

Wie zuvor Lampedusa, so lässt auch die Situation in Usnarz Górny Rufe nach einem dringlichen Nachdenken über die europäische Identität laut werden. Polnische Behörden nutzen den Ausnahmezustand als Vorwand, um sowohl den Medien als auch Frontex den Zugang zur Grenzregion zu verbieten.

Zugleich heißt es in Polen, die Pushback-Praktiken schützten Europa vor einer Migrantenwelle“. Die PiS-Politiker stellen sich dabei als antemurale christianitatis dar – als Bollwerk der Christenheit, in Anspielung auf die alte messianische Doktrin von Polens Rolle in Europa. In einer kürzlich an die Presse durchgesickerten E-Mail bezeichnete ein Minister die Krise an der Grenze als „Geschenk“. Ein Blick auf die letzten Umfragewerte bestätigt, wie erfolgreich die Strategie der Regierung ist: Nach Monaten der Flaute liegt die PiS wieder stabil bei rund 35 Prozent.

Das bedeutendste polnische Epos, „Pan Tadeusz“ von Adam Mickiewicz aus dem 19. Jahrhundert, beginnt mit einer Anrufung der Tugend der Gastfreundschaft: Das Tor weit offen steht und den Fremden versichert/ Gäste sind willkommen und alle sind als Gäste eingeladen.“

Wie die polnische Gastfreundschaft erblüht wäre, wenn man Mickiewicz' Worten an der Grenze Beachtung geschenkt hätte! Stattdessen wurden alle Afghanen, auch die Kinder, gewaltsam nach Belarus zurückgedrängt und von Hunden attackiert – ohne Asyl beantragen zu können.

Religion als Ausrede für Grausamkeiten

Die polnischen Behörden legen eine Grausamkeit an den Tag, die nur schwer zu begreifen ist. Grausamkeit und die Heuchelei, auf diese Art das Christentum zu verteidigen, kommen hier zusammen. Wie die Philosophin Judith Shklar einst bemerkte, ist diese Kombination stets mit Eiferei verbunden. Es entbehrt nicht einer dunklen Ironie, dass in denselben Wäldern, in denen jetzt Afghanen erfrieren, vor einigen Dutzend Jahren viele polnische Staatsbürger jüdischer Identität von sowjetischen Soldaten aufgehalten wurden beim Versuch, aus dem von Nazis besetzten Polen zu fliehen.

Und Europa? Ohne Frage ist Lukaschenko für die aktuelle Situation verantwortlich. Aber seine Grausamkeit stellt unsere Werte auf die Probe. Die europäische Kultur ist voller Geschichten über Zeitreisen. Üblicherweise bietet darin die Zukunft Stoff für Besinnung. Die Novelle „The Time Machine“ von H. G. Wells von 1895 etwa steckt voller Besorgnis über die moralischen Dilemmata der damaligen Zeitgenossen.

Aktuell werfen Reisen in die Vergangenheit ähnliche Fragen auf. Vor allem die Populisten zeichnen gern das Bild einer imaginären Vergangenheit mit einer besseren Gesellschaft, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Ihre modernen „Zeitreisen“ säen Chaos und Unfrieden. Es ist unmöglich, zu einem Europa zurückzukehren, das nicht durch globale Krisen gefährdet ist, denn ein solches Europa hat es nie gegeben.

Soldaten errichten einen Stacheldrahtzaun.

Ein Stacheldrahtzaun entlang der polnisch-belarussischen Grenze Foto: Attila Husejnow/dpa

In Zeiten der Vergangenheits­­verklärung muss sich Europa wieder ehrgeizige Ziele setzen. Heutzutage heißt das: Europäische Werte wie Menschenrechte und Rechtssicherheit. Zeitreisen können Hoffnung bringen – aber nur dann, wenn wir zusammen in eine gemeinsame Zukunft reisen.

Aus dem Englischen: Nina Apin

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ist Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna in Polen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies, Freie Universität Berlin. Sie hat zwei Söhne und pendelt zwischen Berlin und Warschau.

Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

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