Soziologe Streeck über Neoliberalismus: Keine Zukunft für Europa

Der Soziologe Wolfgang Streeck analysiert Demokratie und Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus. Er fordert eine „plebejisch-demokratische“ Politik.

Ein Gelbwesten-Demonstrant in Paris mit dem Eiffelturm im Hintergrund.

Für die Gelbwesten hat der Soziologe Wolfgang Streeck durchaus Sympathien​ Foto: Christoph Hardt/imago-images

Das Image des Kapitalismus hat seit der Finanzkrise 2009 schweren Schaden genommen. Diese nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus 1990 als alternativlos angepriesene Wirtschaftsweise scheint nach einer Phase grenzenloser Expansion an ihre Grenzen gekommen. Der renommierte Soziologe Wolfgang Streeck liefert einen Abgesang auf dieses System. In seinem aktuellen Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie“ verspricht er, eine „Politische Ökonomie im ausgehenden Liberalismus“ zu liefern.

Den Triumphzug des Neoliberalismus zwischen 1990 und 2009 rechnet er einer bestimmten Gestalt des Kapitalismus zu, die er „Hyperglobalisierung“ nennt. Der Fall der Systemgrenze im November 1989 eröffnete neue Räume für globale ökonomisch-politische Fantasien. Eine einheitliche neue Weltordnung, global governance, schien keine Utopie mehr zu sein.

Dafür sollten ­die Institutionen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen worden waren, um den Kapitalismus zu revitalisieren, nutzbar gemacht werden: Weltbank und Weltwährungsfonds. Sie entstammten allerdings einem System, das der Neoliberalismus nach der Energiekrise 1973 erfolgreich bekämpft hatte – einem keynesianisch regulierten Kapitalismus.

Hayek, schon nach dem Ersten Weltkrieg der große Gegenspieler von Keynes, hatte ein Wachstumsmodell ausgedacht, das in der Demokratie ein Hemmnis wirtschaftlicher Entwicklung sah. Mit diesen ökonomischen Vorstellungen zogen nach 1973 die neoliberalen Chicagoboys in den gesellschaftlichen Krieg gegen die Mindeststandards wohlfahrtsstaatlicher Regulierung.

1974 begann nach Streeck eine „Ära neoliberaler ‚Reformen‘ … – Deregulierung, Markt­öffnung, Freihandel, end of welfare as we know it (Clinton), weniger Staat, mehr Markt und ‚schwarze Nullen‘ ohne Ende.“ Die Entfesselung der Marktkräfte, mit den Namen Reagan und Thatcher verknüpft, löste die Stagnationskrise des Westens, unterspülte den Klassenkompromiss des Wohlfahrtsstaates und konkurrierte die Planwirtschaft sowjetischen Typs zu Tode.

Die Beschränkungen des Nationalstaats ignorieren

Der Osten offerierte neue Anlagemöglichkeiten, Rohstoffe und Arbeitskräfte. Die Hegemonie amerikanischer Provenienz funktionierte die internationalen Institutionen um, um einen finanziellen und rechtlichen Rahmen abzustecken, in denen die erweiterte Kapitalakkumulation sich über die Beschränkungen des Nationalstaats hinwegsetzen kann.

Streeck argumentiert scharfsichtig, dass die kapitalistische Akkumulationslogik entgegen den Versprechungen der neoliberalen Politik von „weniger Staat“ auf den Nationalstaat angewiesen bleibt, um den Erfolg dieser Politik abzusichern. Die Krisen dieses neoliberalen Wachstumsmodells rufen den Nationalstaat immer wieder auf den Plan. Die Coronakrise liefert Streeck geradezu das ideale Material, um die verheerenden Folgen der erweiterten internationalen Arbeitsteilung zu illustrieren.

Wolfgang Streeck: „Zwischen Globalismus und Demokratie. Poltische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“. Suhrkamp, Berlin 2021, 538 Seiten, 28 Euro

Streeck argumentiert am eindrucksvollsten, wenn er die Verselbständigung der Ökonomie gegenüber den politischen Institutionen kritisiert. Er greift, wie fast alle gebildeten Kritiker des Neoliberalismus, auf Karl Polanyi zurück, der in seinem einflussreichen Buch „The Great Transformation“ die Widersprüche von Marktwirtschaft und Demokratie in Angriff genommen hat.

Ob allerdings eine Reparatur des Systems im Streeck’schen Sinne, der einen Polanyi-Keynes-Nationalstaat der Globalisierung entgegensetzen will, möglich ist, hängt von Bedingungen ab, die außerhalb der Streeck’schen Analyse liegen.

Ohnmacht der internationalen Institutionen

Er weiß um diese Schwäche seines Textes. Stark ist er immer, wenn es um die Beschreibung der Ohnmacht der bestehenden internationalen Institutionen geht, schwach, wenn er die Möglichkeiten angeben will, wie die losgelassene Ökonomie wieder eingefangen werden kann. Genüsslich zeigt Streeck die Schwächen der Macht des Westens auf, die ihre internationale Potenz mit innergesellschaftlichen Verheerungen bezahlen muss, die wiederum als steigende Kosten der Globalisierung den Profit schmälern.

Zu Hochform läuft Streeck auf, wenn er die europäischen Institutionen kritisiert, die von Frankreich und Deutschland dominiert werden. Streeck argumentiert wie ein Brexiteer von links, der wirklich ernsthaft glaubt, mit der Rückkehr zu angeblich gleichberechtigten Nationalstaaten die politische Kontrolle zurückzugewinnen.

Als Politischer Ökonom durchschaut er die Problematik des Euro, der nicht nach den Maßstäben der schwäbischen Hausfrau bewirtschaftet werden kann, weil er für den Ausgleich zwischen dem Norden und dem europäischen Süden sorgen muss. Auch in diesem Rahmen steigen die Kosten der Internationalisierung, die eine global gleichberechtigte Rolle Europas mit den USA und China als lächerliche Aspiration erscheinen lässt.

Eindrucksvoll illustriert Streeck dies an den selbstständigen europäischen Verteidigungsanstrengungen, die schon von den divergenten außenpolitischen Interessen der führenden Mächte Frankreich und Deutschland konterkariert werden. Europa hat für Streeck keine Zukunft.

Indifferenz gegen die politischen Folgen

Völlig unempfindlich zeigt sich Streeck gegen die politischen Folgen seiner Analyse. Diese Indifferenz mag ihn wohl bewogen haben, vor einiger Zeit mit Sahra Wagenknecht zum „Aufstehen“ aufzurufen. „Populismus“ setzt er gerne in Anführungszeichen, Syriza, Gelbwesten, Occupy erfreuen sich seiner Sympathie.

Einen scharfen Ton schlägt er gegen „linksliberale Eliten“ an, deren Ideologen der Soziologe vor allem in den neuen Mittelschichten verortet. Er plädiert für eine Rückkehr zu einer „plebejisch-demokratischen“ Politik, von der ein „take back control“ im wiedergewonnenen Nationalstaat zu erwarten wäre. Will er diese tragende Rolle einer irreversibel schrumpfenden Arbeiterklasse übertragen?

Die Infragestellung demokratischer Politik durch die MAGA-Bewegung („Make America Great Again“) scheint Streeck gar nicht wahrgenommen zu haben. Den Aufstieg des globalen Gegenspielers China, der nicht die Priorität in einer erweiterten Kapitalakkumulation sieht, nimmt die Streeck’sche Politische Ökonomie nicht ernst. Ökonomischer Kenntnisreichtum schützt eben vor politischer Torheit nicht.

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