Spannungen im Kaschmirtal: Angst unter Hindus und Sikhs

Eine Mordserie an Angehörigen religiöser Minderheiten im indischen Teil Kaschmirs treibt Hindus in die Flucht. Die Situation erinnert an die 1990er.

Angehörige trauern um Supinder Kaur

Gewalt in Kaschmir: Die 50-jährige Rektorin einer Schule, Supinder Kaur, wurde in Srinagar ermordet Foto: Mukhtar Khan/ap

MUMBAI taz | „Wir leben in großer Angst“, sagt Sanjay Tickoo. Der 54-Jährige vertritt 808 kaschmirische Pandit-Familien, die in den 1990er Jahren nach einem Massaker an Hindus im mehrheitlich von Muslimen bewohnten Kaschmirtal blieben. Die Spannungen im indischen Teil Kaschmirs sind derzeit wieder deutlich zu spüren.

Tickoo fühlt sich in die 1990er zurückversetzt. Die Situation sei heute sogar schlimmer, sagt er. Damals flohen 100.000 kaschmirische Hindus, als Pandits bekannt. Die jüngsten Anschläge auf Angehörige religiöser Minderheiten wie Pandits oder Sikhs in der letzten Woche in Kaschmirs Sommerhauptstadt Srinagar erschüttern die Bevölkerung.

Es gab kleinere Trauerkundgebungen in Kaschmir wie in Indiens Hauptstadt Neu-­Delhi. Die islamistische Widerstandsfront TRF bekannte sich zu den Anschlägen. Laut indischen Medien wird TRF von Pakistan unterstützt. Vertreter aller Religionen verurteilten die Morde. Indische Sicherheitskräfte erschossen danach fünf mutmaßliche Terroristen und nahmen Hunderte „militante“ Muslime fest.

„Wir haben uns an die muslimische Mehrheitsgesellschaft in Kaschmir gewendet und fordern sie auf, in ihren Moscheen die Gewalt zu verurteilen“, sagt Tickoo, der eine Panditorganisation führt. Auch Hindus sieht er in der Pflicht, überall in Indien Lynchmorde an Muslimen zu verurteilen. Bisher rege sich zu wenig. Dass jetzt mit Makhan Lal Bindroo ein bekannter kaschmirischer Hindu ermordet wurde, der kein Rückkehrer war, habe die Pandits besonders getroffen.

„Wir können nicht immer fliehen“

Solch ein Vorfall habe sich zuletzt vor 18 Jahren ereignet. Inzwischen gingen Hindus laut Tickoo aber wieder zur Arbeit. Doch kämen sie schon vor Sonnenuntergang nach Hause. Früher trat Tickoo gelegentlich in den Hungerstreik, um seiner Gemeinschaft im Kaschmirtal gewaltfrei Gehör zu verschaffen. Er will weiterhin bleiben: „Wir können nicht immer fliehen“, sagt er und hofft auf Gehör bei der Regierung des Unionsterritoriums.

Dass viele Pandits das Kaschmirtal jetzt erneut verlassen, bestätigt der taz ein Anwalt aus der Minderheit. Es seien zum Teil Familien, die vor wenigen Jahren unter einem speziellen Programm in ihre Heimat zurückkehrten. Sie hatten aus Angst nach 1990 die Region verlassen.

Seitdem hat Indiens Regierung versucht, Hindus wieder anzusiedeln etwa mit der Aussicht auf einen Job in der Verwaltung. Doch zuletzt flohen Tausende Hindus vorerst in die Nachbarregion Jammu, wo mehr Hindus leben als im Kaschmirtal.

Noch im Juli hatte Innenstaatsminister Nityanand Rai behauptet, Hindus würden sich nun im Kaschmirtal sicherer fühlen. Dabei wurde dort jetzt mit einer Sikh eine weitere Minderheit angegriffen. Unter zwei kürzlich ermordeten Lehrern war die 50-jährige Rektorin Satinder Kaur.

„Wir müssen unbedingt den Frieden erhalten“

Jagmohan Singh Raina von der Sikhorganisation APSCC mahnt: „Wir müssen unbedingt den Frieden erhalten.“ Viele Parteien hätten es auf Kaschmir abgesehen. Deshalb wolle er wie der Hindu-Kollege Tickoo die Stellung halten. Früher hätten Sikhs nur aus ökonomischen Gründen das Tal verlassen.

Dort starben in diesem Jahr laut Magazin The Kashmir Walla bereits 150 Personen einen gewaltsamen Tod, darunter 100 sogenannte Militante und 29 Zivilist:innen. Allein in den ersten zwölf Oktobertagen gab es 22 Todesfälle.

„Zum ersten Mal in den 20 Jahren, in denen ich aus Kaschmir berichte, habe ich jetzt junge Muslime gesehen, die Pakistan für die Tötung von Hindus und Sikhs verantwortlich machen“, sagt die Journalistin Aarti Tikoo, eine Pandit, bei der Rückkehr von einer Mahnwache.

Kaschmir ist zwischen Indien, Pakistan und China aufgeteilt und umstritten. Indien und Pakistan haben zwei ihrer bisher drei Kriege gegeneinander um Kaschmir geführt. Der von Indien kontrollierte Teil Kaschmirs ist die einzige Region im Land mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung. Die Regierung in Islamabad unterstützt jenseits der Waffenstillstandslinie seit Jahren eine zum Teil militante und von Islamisten beeinflusste Unabhängigkeitsbewegung mit dem Ziel des Anschlusses an Pakistan.

Die hindunationalistische Regierung in Delhi hat ihrerseits 2019 die bisherige Autonomie des Bundesstaates Jammu und Kaschmir aufgehoben, diesen geteilt und der Zentralregierung direkt unterstellt. Indische Sicherheitskräfte gehen in Kaschmir seit Jahren brutal gegen separatistische Kräfte vor und schüren damit immer wieder selbst den Widerstand.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.